piwik no script img

Gänseklein mit großen Rosinen

■ Eine Mozartehrung nach Neuköllner Art: „Die Gans von Kairo“, komplett in Berlin

Und dann gibt es in Berlin abseits der offiziellen Theaterlandschaft immer noch eine Unzahl sogenannter Freier Gruppen. Wenige sind auserwählt, die Neuköllner Oper gehört dazu. Seit 1972 werkelt da ein kleines Häuflein von Besessenen unverdrossen am Ding der Unmöglichkeit: Musiktheater zu machen, wie man's gerne hätte. Nicht breit gespreizt, dafür schlank und witzig. Lehrreich gewiß, aber bitte kein tönender Volkshochschulkurs. Preiswert, nicht billig. Und musikalisch so gediegen wie es einem fliegenden Ensemble von (Noch-)Nichtprofis eben möglich ist. Was an Hochglanz fehlt, wird ersetzt durch brillante Ideen.

Wofür vor allem der unerschöpfliche Winfried Radeke sorgt, der das Unternehmen dirigierend, komponierend, arrangierend, schreibend und spielend von einem Erfolg zum nächsten führte. Er hat zum Beispiel als einer der ersten Viktor Ullmans Kaiser von Atlantis aufgeführt oder, ein andermal, die Carmina burana dahin verpflanzt, wohin sie eigentlich gehören: In Taberna, mitten in ein Fress- und Saufgelage. Heuer eröffnete die Neuköllner Oper ihre Sommersaison mit Mozart. So machen's alle — nur dürfte es wenigen so staubfrei und dabei so ganz und gar nicht stubenrein geraten.

Man gab Köchel Verzeichnis 422, das ist: Die Gans von Kairo — ein Fragment. Nicht mehr als sechseinhalb fertige Nummern, komponiert zu einem ziemlich verkorksten Librettoentwurf — angefangen nach der Entführung aus dem Serail und in die Schublade gelegt vor dem Schauspieldirektor. „Meine gemachte Musique liegt und schläft gut“, schrieb Mozart im Februar 1784 an seinen Vater, „wenn Sie das, was meinerseits fertig ist, hören sollten, so würden Sie mit mir wünschen, daß es nicht verdorben werden sollte! Und das ist so leicht geschehen! Und geschieht so oft!“ Weil heute längst nichts mehr vom Tisch geht, was Mozart einmal in den Fingern hatte, ist diese Handvoll Gänseklein schon öfters aufgeführt worden: als wissenschaftliche Fußnote, als eine Rarität am Rande. In Neukölln aber brachte man endlich die ganze Gans auf die Bühne — denn Radeke war so frei und schrieb das Stück kurzerhand zu Ende.

Nahm noch ein weiteres Opernfragment dazu und borgte sich so viele Mozartsche Einlagen zu Opern anderer Komponisten aus, bis genug Arien, Duette, Quartette et cetera parat lagen. Machte sich dann ans Instrumentieren, dachte sich eine neue Handlung aus, schrieb dazu ein fetziges Textbuch und komponierte schließlich eigenhändig sämtliche handlungstragenden Rezitative. Ein Rezitativ im Stil der Mozartzeit zu türken, ist freilich noch keine Kunst. Doch eine ganze pralle Buffo-Oper zu fälschen, dazu braucht es mehr als nur ein bißchen Mut zur Lücke. Ein Zaubertrick ist gefragt: eine einzige, einzigartige, sämtliche denkbaren Peinlichkeiten schon im voraus vereitelnde Idee. Radeke verwandelt —Simsalabim — das Spiel mit Fragmenten in eine Glosse über das Fragmentarische. Mit anderen Worten: Er macht eine Oper über die Oper daraus.

Wenn nach der ersten großen Ensemblenummer der Baß-Buffo resigniert an der Rampe sitzt und nicht weiß, wie es weitergeht; wenn die Primadonna ihre glänzende Auftrittsarie absolviert und erst anschließend beiläufig nachfragt, welches Stück hier eigentlich gespielt wird; wenn der Tenor mit der Begründung, er sei hier nur der Tenor, keine Silbe beiträgt zum Fortgang der Handlung, dafür aber im unpassendsten Augenblick seine Belcanto-Bögen abdröhnt — dann wird klar, daß nicht nur diese Gans, daß vielmehr die ganze Gattung Oper bei Lichte besehen nichts weiter ist als ein Bündel von unmöglich miteinander zu vereinbarenden Bruchstücken. Worüber im weiteren Verlauf des Abends erstens die Darsteller in Streit geraten, zweitens die drei Musen, drittens der Kapellmeister samt dem Orchester — ja, sogar das Publikum wird mit hineingezogen in den Strudel der Absurditäten. Und alle tun's mit dem größten Vergnügen.

Denn bei dem Abenteuer springt ja am Ende doch eine echte Oper heraus. Die Inszenierung sprüht Funken. Die Ausstattung ist komödiengerecht kunterbunt. Radeke reizt dramaturgisch sämtliche Gags aus, bis an die Grenze dessen, was ein Mensch lachenden und weinenden Auges gerade noch ertragen kann, und führt außerdem das kleine Kammerorchester und seine Nachwuchssänger so flink und sauber durch die Musik, daß der dünne Klang und manch wacklige Höhe schnell vergessen und vergeben sind. Die Musik ist, wie gesagt, bester Mozart. Elisabeth Eleonore Bauer

W.A. Mozart: Die Gans von Kairo . Dramma giocoso in einer Fassung der Neuköllner Oper. Regie: Peter Lund. Bühnenbild und Kostüme: Ulrike Reinhard. Musikalische Leitung: Winfried Radeke. Mit Regine Gebhardt, Berthold Kogut, Andrea Müller, Birgit Woldmann und anderen.

Karl-Marx-Straße131-133, (West-)Berlin. Weitere Aufführungen am 15., 17., 18., 22. und 24. Mai jeweils um 20 Uhr und am 20. Mai um 17 Uhr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen