: Angriff auf den Lohn für kranke Arbeitnehmer
■ Arbeitgeber und FDP wollen ein Recht durchlöchern, das einst in dreimonatigem Streik erkämpft wurde
Berlin (taz) — Nach Arbeitgeberpräsident Murmann will jetzt auch die FDP gegen eine Errungenschaft vorgehen, die einst durch einen erbitterten, dreimonatigen Streik der Metallarbeiter in Schleswig-Holstein erkämpft worden ist: die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Der gesundheitspolitische Sprecher der Freien Demokraten, Dieter Thomae, plädierte gestern in der hannoverschen 'Neuen Presse‘ für ein Stufenmodell, „wo man ab dem ersten Tag beispielsweise den Lohn um 30 Prozent kürzt, am zweiten Tag um 25 Prozent und am dritten Tag vielleicht um 20.“ IG-Metall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthenner empörte sich über eine solche Sichtweise: Murmann verunglimpfe kranke Arbeitnehmer pauschal als Drückeberger und Blaumacher.
„Wenn Hein Müller krank ist“, so rechnete die Gewerkschaft in einem Flugblatt am 31.Oktober 1956 vor, verliert er pro Monat „175,12 Deutsche Mark, die Hälfte seines Verdienstes!“. Das galt aber nur für den Arbeiter Hein Müller — nicht so für Kollegen Heinrich Müller, der als Angestellter in der Lohnbuchhaltung arbeitete. Gegen diese eklatante Ungerechtigkeit richtete sich der Zorn der Gewerkschafter. Ende 1955 wurde der Rahmentarifvertrag für die Metallindustrie in Schleswig-Holstein gekündigt, um tariflich durchzusetzen, was gesetzlich nicht geregelt war. Die Arbeitgeber sträubten sich in den Verhandlungen mit Händen und Füßen. Nach einem dreiviertel Jahr verloren die Metaller die Geduld und traten am 24.Oktober 1956 in 17 Werften und Maschinenfabriken in den Streik. Es war einer der seltenen „politischen Streiks“ der deutschen Gewerkschaftsbewegung — und gerade deshalb wurde die Auseinandersetzung mit größter Erbitterung geführt. Später beteiligten sich noch weitere Betriebe an dem Ausstand, der in der ganzen Bundesrepublik als exemplarischer Kampf um soziale Gerechtigkeit beobachtet wurde. Erst drei Monate später, nach mehreren vergeblichen Vermittlungsversuchen des schleswig- holsteinischen Ministerpräsidenten von Hassel, kam ein Kompromiß zustande. Die Lohnfortzahlung für Arbeiter vom ersten Tag an war tariflich durchgesetzt und wurde später vom Gesetzgeber übernommen. marke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen