Kein Konsens über die Zukunft der Stasi-Akten

■ Heute wollen sich die Bundestagsfraktionen erneut über die endgültige Fassung eines Gesetzes zur Verwendung der Stasi-Akten beraten. Die Absicht jedoch, das Gesetz mit Zustimmung aller...

Kein Konsens über die Zukunft der Stasi-Akten Heute wollen sich die Bundestagsfraktionen erneut über die endgültige Fassung eines Gesetzes zur Verwendung der Stasi-Akten beraten. Die Absicht jedoch, das Gesetz mit Zustimmung aller Parteien durchzubringen, ist gescheitert.

VON WOLFGANG GAST

Gegenüber dem Eingang zum früheren Berliner Hauptquartier des Staatssicherheitsdienstes steht gut sichtbar die Parole: „Ich will meine Akte haben!“ Die Einlösung dieser Forderung, die Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung beim Sturm auf die Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 auf einen Verteilerkasten der Post gesprüht hatten, ist in greifbare Nähe gerückt. Das Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DRR — im Amtsdeutsch kurz auch „Stasi-Unterlagen-Gesetz“ (StUG) — genannt, soll nach langwierigen Beratungen noch vor der Sommerpause in der ersten Junihälfte in den Bundestag eingebracht und im Innenausschuß beraten werden. Doch die Absicht, den Gesetzestext parteiübergreifend und im Konsens mit allen Bundestagsfraktionen zu verabschieden, ist gescheitert. Wenn sich heute in Zimmer 1003 des Bonner Innenministeriums erneut die Fraktionsvertreter (mit Ausnahme der PDS, die sich nicht an den Beratungen beteiligen wollte) zusammensetzen, um eine endgültige Fassung zu verabschieden, wird das Bündnis 90/Grüne ausscheren und dem „vertraulichen Gesetzentwurf“ aus dem Hause Schäuble die Zustimmung verweigern.

Eine Allparteienregelung, wie sie die Bonner Regierungsparteien in ihren Koalitionsverhandlungen Ende letzten Jahres vereinbart hatten, schien am 25. April bereits unter Dach und Fach. Übereinstimmend begrüßten die ParteivertreterInnen nach der letzten Beratungsrunde die Abmachungen, die den Stasi-Opfern ein weitreichendes Akteneinsichts- und Auskunftsrecht gewähren, eine historische und juristische Aufarbeitung ermöglichen und die die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen sicherstellen sollten. Hatte es ursprünglich so ausgesehen, als würde Verfassungsschützern und dem Bundesnachrichtendienst der Zugriff auf die Hinterlassenschaften der Staatssicherheit kategorisch verwehrt, hatte sich dies unter dem Eindruck der aufgeflogenen Verbindungen zwischen RAF und Stasi und dem tödlichen Anschlag auf den Chef der Berliner Treuhandanstalt, Rohwedder, gründlich gewandelt. Eine Kompromißformel für diesen bis zum Ende strittigen Punkt sollte den Zugang der Nachrichtendienste auf jene Unterlagen eingrenzen, in denen keine personengebundenen Angaben über die Opfer des Spitzelministeriums enthalten sind. Einsicht sollten die Geheimdienste zudem nur in Akten der Stasi-Abteilungen HVA (Auslandsnachrichtendienst), HA II (Spionageabwehr) und HA XXII (Terrorismusabwehr) erhalten.

Die innenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Grüne, Ingrid Köppe, stimmte diesen Eckwerten zwar zu, äußerte aber in einigen Punkten „schwerwiegende Bedenken“, die im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens ausgeräumt werden müßten. Sie monierte insbesondere den geplanten weitreichenden Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die illegal angelegten Dossiers. Den gleichen Punkt hatten bereits im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen auch die in der ÖTV organisierten Richter und Staatsanwälte kritisiert. Weil die Unterlagen von der Stasi bar jeder verfassungsmäßigen Grundlage angehäuft wurden, so hatten sie erklärt, müßten sie einem generellen „Verwertungsverbot“ unterliegen.

Die vertrauliche 70seitige „Formulierungshilfe für den Entwurf eines Stasi-Unterlagen-Gesetzes“, die der Staatssekretär im Innenministerium, Hans Neusel, Anfang dieser Woche den Parteien zukommen ließ, soll Grundlage des zu beschließenden Gesetzentwurfes werden. Sie fällt weit hinter die zuvor vereinbarten Eckwerte zurück. Im Ergebnisprotokoll der parteiübergreifenden Gespräche vom 25. April hatte es beispielsweise noch geheißen: „Nachrichtendienste haben keinen Zugang zu Unterlagen über Betroffene. Sollten sie Unterlagen über Betroffene besitzen, sind sie an den Bundesbeauftragten herauszugeben, ohne daß Kopien zurückbehalten werden dürfen.“ In Paragraph 3 des neuen Gesetzentwurfes werden zwar auch „besondere Verwertungsverbote“ festgeschrieben, aber weiter hinten im Gesetzestext relativiert. Ergänzend heißt es in § 19: „Dies gilt nicht für personenbezogene Daten, die bei der Spionagetätigkeit gegen die Bundesrepublik und ihre Verbündeten oder bei der Ausspähung der Nachrichtendienste des Bundes, der Länder oder der Verbündeten angefallen sind.“ Ebensowenig wird die Verwendung personenbezogener Daten für die „Zwecke der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr“ eingegrenzt. Unterlagen Betroffener sollen zur Verfolgung verwendet werden können bei

—Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit des MfS;

—einer der in § 100a der Strafprozeßordnung genannten Straftaten wie Hochverrat, Wertpapier- und Geldfälschung, Erpressung;

—Straftaten im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Regime;

—und zur Verhütung von Straftaten, die in § 138 StGB aufgeführt werden. Diese Bestimmung, die eigentlich die „Nichtanzeige geplanter Straftaten“ regelt, ist ebenso diffus wie weitläufig. Unter sie fallen Staatsschutzdelikte, Landesverrat, Menschenhandel und Mord, aber auch Delikte wie Geldfälschung und Scheckbetrug. Mitarbeiter der Stasi- Akten-Behörde zweifeln nicht nur an der Rechtmäßigkeit dieser Absichten— sie halten eine Verwendung der Unterlagen für präventive Zwecke darüber hinaus für unsinnig. Schließlich lägen die letzten Erkenntnisse der Stasi mindestens 18 Monate zurück. Und welche geplante Straftat sollte sich damit schon verhüten lassen?

Bei der nun im Entwurf detailliert aufgenommenen Regelung zur „Rückgabe und Herausgabe von Unterlagen durch den Bundesbeauftragten“, spotten Gauck-Mitarbeiter weiter, habe das Innenministerium offenbar von der Stasi „gut gelernt“. Unterlagen über andere Behörden und Institutionen, die in den Stasi- Archiven gefunden werden, sollen den Eigentümern zurückgegeben werden. Im Archiv der Gauck-Behörde soll nur ein Duplikat verbleiben. Dies gilt dem Entwurf zufolge aber nicht für „als Verschlußssache eingestufte Unterlagen des Bundes, der Länder oder der Verbündeten“. Die Unterlagen über die beispiellose Ausforschung der westdeutschen Geheimdienste durch den Staatssicherheitsdienst bleiben damit auch einer späteren historischen Forschung entzogen. Im Gegenzug werden Polizei- und Strafverfolgungsbehörden ebenso wie die Nachrichtendienste von ihrer Pflicht zur Herausgabe von Stasi-Unterlagen entbunden, wenn „der Bundesminister des Inneren feststellt, daß die Herausgabe das Wohl des Bundes oder eines Landes gefährden“ würde.