: Südosteuropäische Verwirrungen
■ Reportagen aus einem Entwicklungsland von Richard Wagner/ Von verspäteter Nationbildung und zivilisatorischem Rückstand: „Sonderweg Rumänien“/ Neues für Insider, ideal für Einsteiger
Spannend wie in einem Krimi umreißt Richard Wagner in zehn Kapiteln Bericht aus einem Entwicklungsland die Begriffe „Südosteuropa“, „Balkan“ und „Postkommunismus“. 1952 in Lowrin/Banat geboren, zeigt der Autor am Beispiel seiner rumänischen Heimat die lange Tradition totalitärer Systeme, die nach der Revolution vom Winter 1989/90 heute einen neuen Einparteienstaat möglich macht. Bisher eher Belletristik und Lyrik verpflichtet, beweist Wagner in Sonderweg Rumänien Mut zur kurzen, reportierenden Beschreibung komplexer Zusammenhänge, prägnanten Analysen und die Bereitschaft zu Parteilichkeit.
Wagner beschreibt die rumänische Gesellschaft des Jahres Eins nach Ceausescu in ihrer Macht und Ohnmacht: Die heimgekehrten ExilrumänInnen, denen es aus Unkenntnis der Situation unter Ceausescu heraus nicht gelungen ist, die Parteien der Zwischenkriegszeit mit neuem Leben zu erfüllen. Die Kirchen und Minderheiten, deren FunktionärInnen nicht zum Protest gegen den Führer und seine Lakaien in Wirtschaft, Partei und Kultur bereit waren. Techniker, Palastrevolutionäre und Intellektuelle, die als Trägerschichten des Ceausescu-Regimes ihre Verstrickung mit dem Clan des „Conducator“ schnell durch die Besetzung des sozialen Vakuums nach der „Implosion“ des Regimes vernebeln wollen. Gewendete Stalinisten und reuige Generäle der von Politoffizieren der Partei geführten Armee mit ihrem Desinteresse, die „Goldene Ära“ aufzuarbeiten. Schließlich auch die wenigen jüngeren kritischen Intellektuellen, zu denen Wagner sich als ehemaliges Mitglied der „Aktionsgruppe Banat“ selbst zählen dürfte, sind sich nicht über den Feind klargeworden, dem sie heute gegenüberstehen.
Wagner beschreibt eine „Rumänische Ideologie“, die älter ist als die kommunistische Diktatur Ceausescus, des Klerofaschisten Antonescu oder der nationalsozialistischen „Eisernen Garde“. Die Isolation der Revolutionäre vom Dezember 1989, die sich von den von Iliescu herbeigerufenen Bergarbeitern in Bukarest verprügeln lassen mußten, hängt mit dem Irrglauben zusammen, Antikommunismus sei gleich Demokratie. Tatsächlich ist die stalinistische Variante von Lenins einzigem Weg ins klassenlose Paradies besonders in Südosteuropa lange vor dem Herbst 1989 zur bloßen Form einer älteren Ideologie geworden. Heute nennen rumänische Wendehälse den Marxismus-Leninismus einen russischen Import: Was schlecht ist, kann nicht rumänisch sein. Folglich kann auch kein Ilionescu für die Schandtaten seiner vormaligen Kommunistischen Partei verantwortlich gemacht werden.
Totalitäre Systeme zeichnen sich für Wagner durch allgemeine Beteiligung aus: Der Bauer, der den Parteisekretär besticht, ist schuldig, der Student, der im Auftrag der Sekuritate seine Kommilitonen bespitzelt, ist es auch. Wagner zieht Kreise um jeden Teil der „Südosteuropäischen Verwirrungen“. Fazit: „Das Verschwinden des Kommunismus in Südosteuropa (...) wirft die Völker auf ihre alten Mythen zurück (...)“, auf Religion, Rassismus und Nationalismus.
Wagner bleibt nicht bei der westmedienüblichen Theorie vom unterdrückten Nationalismus unter der Herrschaft von ML. Er beschreibt, wie die Stalinisten jedesmal den Nationalgedanken bemühten, wenn es galt, Feinde im Inneren oder Äußeren auszugrenzen: Roma, Russen, Juden oder Ungarn wurden in der Geschichte Rumäniens immer dann diskriminiert, wenn es galt, die „Rumänische Ideologie“ zu stabilisieren, Herrschaftsansprüche zu legitimieren.
Der Nationalismus war unter Ceausescu keineswegs unterdrückt — Nationalismus und Staatssozialismus gingen konform. Der „neue“ Nationalismus ist zwar in einem antikommunistischen Gewand angetreten, aber ohne den Willen, die Diktaturen in der Geschichte Rumäniens aufzuarbeiten. Wagner beschreibt einen Teufelskreis von Armut, Abhängigkeit, staatlich forcierter Dummheit und Isolation, der das Entstehen von Diktatur und Unfreiheit fördert, wenn nicht fordert, und hier spricht der Banater nicht mehr von Rumänien, sondern von „Balkan“ und „Südosteuropa“, verspäteter Nationbildung und zivilisatorischem Rückstand.
Es bleibt die Frage nach der Haltung derjenigen Staaten, die weder das unselige Erbe eines Nicolae Ceausescu noch eine geostrategische Randlage zu ertragen haben. Sonderweg Rumänien ist ein gelungener Rundumschlag zu „Postkommunismus“, „Südosteuropa“ und „Balkan“: Voller Neuem für Insider, ideal für Einsteiger. Rüdiger Rossig
Richard Wagner, Sonderweg Rumänien — Bericht aus einem Entwicklungsland, Rotbuch 37, Berlin 1991, 14,00 DM
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