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Letzte Chance für eine Waschmitteltradition

■ Aus Genthin kam das Waschpulver des realexistierenden Sozialismus/ Trotz Sanierung bleiben nur 400 der 1.700 Arbeitsplätze/ Nun kämpfen Werk und Stadt ums Überleben/ Von Frank Brendel

Genthin (taz) — „Wer jung ist, geht dahin, wo die Arbeit ist — nach Westdeutschland! Hier stirbt alles!“ Die fünf Arbeiter, die in der Werkskantine des ehemaligen VEB Waschmittelwerk Genthin zu Mittag essen, zählen sich nicht mehr zu den Jungen. Wenn alles stirbt, was werden sie dann machen — mitsterben?

Genthin ist eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt mit 17.000 Einwohnern. Und doch war Genthin früher in jedem Haushalt der DDR vertreten: Über das Waschmittel „Spee“, das hier von 1.700 Beschäftigten flächendeckend für ganz Ostdeutschland produziert wurde.

Im Dezember 1990 übernahm die Düsseldorfer Henkel KG, der große westdeutsche Waschmittelkonzern, das Werk mit noch knapp 1.300 Beschäftigten von der Treuhand. Inzwischen finden nur noch 850 Menschen hier Arbeit. Wenn die geplante Sanierung abgeschlossen ist, sollen zwar 40 Millionen Mark investiert worden sein. Arbeitsplätze gibt es dann aber nur noch für gut 400 Arbeitnehmer.

Die beiden Geschäftsführer Rolf Brose, 54, und Ulrich Jahnke, 52, sind aus der Düsseldorfer Zentrale hierher gekommen. Sie sollen aus der jetzigen Henkel Genthin GmbH bis 1993 einen gewinnbringenden Betrieb machen. Keine leichte Aufgabe, und eine undankbare zudem. Denn vielmehr als Entlassungen können Brose und Jahnke den Beschäftigten im Moment nicht bieten. Eine hoffnungsvolle Zukunft ist noch nicht greifbar — dagegen ist das Sterben der Industrie Genthins allgegenwärtig und bedrückend.

Gegenüber dem Waschmittelwerk traf es die Genthiner Zuckerfabrik. Ein wuchtiger häßlicher Betonbau. Nur aus dem Schornstein des betriebseigenen Kraftwerks steigt noch eine dünne Rauchsäule, ansonsten ist schon alles tot. Eine Handvoll Arbeiter läßt das werkseigene Kraftwerk auf Sparflamme weiterlaufen. Einige kleinere angeschlossene Betriebe werden von hier aus noch mit Energie versorgt. Die Zuckerfabrik selbst braucht keine mehr — sie war im Wettbewerb der Marktwirtschaft ohne Chance und hat ihre Produktion längst eingestellt.

Christiane Tannhäuser, 54 Jahre und Textilreinigungsmeisterin, hat über Ostern ihre Kündigung zum ersten Juli erhalten. „Für jemand in meinem Alter ist doch jetzt Schluß!“ Mit einer fatalistischen Gelassenheit hat Frau Tannhäuser diese Worte ausgesprochen. Ob sie enttäuscht ist von der freien Marktwirtschaft, ob sie sich um den Lohn ihres Lebens betrogen fühlt, sie sagt es nicht. Dabei war die Waschmittelfabrik ein wichtiger Teil ihres Lebens, am 17. September dieses Jahres hätte sie das Jubiläum der 40jährigen Betriebszugehörigkeit feiern können. Christiane Tannhäuser ist von allem überwältigt — sie wehrt sich nicht mehr.

Ähnlich muß es auf der letzten Betriebsversammlung fast allen Beschäftigten gegangen sein, als die beiden westdeutschen Manager der Belegschaft ihr Sanierungsmodell vorgestellt haben. Tacheles haben sie da geredet, die 400 Entlassungen über Ostern angekündigt und auch klargestellt, daß schon bald weiter entlassen wird, solange, bis noch etwa 400 bis 450 Beschäftigte übriggeblieben sind. Keine Proteste hat es da gegeben, keine Zwischenrufe — nichts.

So recht freuen können sich die neuen Geschäftsführer darüber nicht. Beide haben ihre Kindheit und Jugend in der DDR verbracht, sind erst als junge Erwachsene in den Westen gegangen. Das mag dazu beigetragen haben, daß sie sich als Gesprächspartner erweisen, die über den Tellerrand der unmittelbaren eigenen Interessen hinausblicken.

„Die heute Fünfzigjährigen sind die großen Verlierer der Wiedervereinigung“, haben sie erkannt. Und haben der Erkenntnis Taten folgen lassen. Manager Brose spricht ernst und bewegt über die Probleme des Kreises Genthin, schildert in drastischen Worten die Situation der Menschen, die in der ostdeutschen Provinz den Zusammenbruch des SED- Regimes erleben.

Oft hat Brose in letzter Zeit über dieses Thema reden müssen: Mit dem Genthiner Bürgermeister, den örtlichen Vertretern der Kirche, mit dem Kolping-Bildungswerk Magdeburg und dem Betriebsrat.

Doch bei den Bemühungen ist auch etwas herausgekommen. Eine Beschäftigungs- und Qualifizierungs-GmbH wird auf dem Werksgelände entstehen, dem Kolping-Bildungswerk werden für einen symbolischen Betrag Räumlichkeiten für ein Berufsförderungszentrum zur Verfügung gestellt. Im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Land und Kreis tragen, sollen auf dem Werksgelände Altlasten saniert werden. 300 bis 400 Beschäftigte sollen so vor dem Absturz ins Nichts bewahrt werden.

Natürlich nützt es auch der Henkel-Zentrale in Düsseldorf, wenn das Vertrauen der Genthiner in ihre eigenen Zukunft wiederkehrt. Sie unterstützt Broses Engagement daher rechtlich, technisch und finanziell. Ein zerstörtes soziales Umfeld würde ganz erheblich den Werksfrieden und damit die Produktion belasten. In einer sterbenden Stadt ist ein Neuanfang für die Waschmittelfabrik kaum denkbar.

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