: Samstag: Brausepulver im Zirkuszelt
■ Neu-Hippie-Star Lenny Kravitz im Tempodrom
Pfingsten ist Hippiezeit. Während in Potsdam eine eher gutbetuchte Akademiker-, Lehrer- und Zahnarztgemeinde sich für dreihundert Mark »Visionen« zeigen ließ, feierte die Kreuzberger Hippiemischung am Mariannenplatz ihr traditionell gut gelauntes Fest »umsonst& draußen«. Im ausverkauften Tempodrom wartete währenddessen am Sonnabend Lenny Kravitz auf seinen Auftritt. Nur ein paar Hippiemädchen waren aus Kreuzberg mitgekommen und bauten lachend kunstvolle Pyramiden aus Sektgläsern und halbvollen Bierbechern. Das Bier leuchtete in der abendlichen Sonne. Wer Zigaretten, Feuerzeug und Blättchen zu Hause vergessen hatte, spülte sein Hasch mit Kaffee herunter. Einige kifften auch. Während am Mariannenplatz sich alle zeitlos amüsiert und interessiert hatten, konzentrierte man sich im Tempodrom auf den Star des Abends. Das populistische Synthesizergeseiere der Vorgruppe ließ man eher mürrisch über sich ergehen.
Das Band vor der Band suchte athmosphärisch einzustimmen: Hendrix, ein wenig Soul und ziemlich viele Bob-Marley-Titel schepperten durch das Zelt. Musik, die dann doch zu sehr an das erinnert hätte, was kommen sollte, sparte Kravitz aus. Dann wedelten alle mit zwei Fingern als »V« in der Luft herum; Kravitz grüßte zurück. Später warf er mit Blumensträußen. Matt orange wie Brausepulver leuchtet die Eintrittskarte. »V« bedeutet für den schlanken Star immer noch »Peace«. »Peace, Peace, Peace«. Und »Love«. Doch trotz erwartungsfroher, begeisterungswilliger Fans waren die Schwächen des schmalen Sängers nur allzu deutlich. Zu schnell hat sich seine Musik vom Hendrixvergötternd-Rebellischen zum eher Besinnlich-Balladesken gewandelt. Für ein paar Minuten ist er noch Prince, dann John Lennon, ein Motownstar manchmal oder Sade als Mann. Lenny Kravitz gibt es gar nicht. Meist spürt man ein eher bemühtes Bemühen, die Stücke den Originalen nicht zu ähnlich zu machen. Redlich und ein bißchen schamhaft bemüht man sich, das alte Beatles-Arrangement von »Dear Prudence« zu verstecken. Alles zerfällt musikalisch. Um dem Zerfall zu entgehen covert man dann tatsächlich ein paar Oldies oder gibt als Dieb dem Bewährten — »NSU« von Cream — ein paar neue Wörter.
Es gibt wenig Musiker, die so kunstvoll wie Kravitz mit Stimme und Instrument umzugehen wissen und gleichzeitig doch so bar jeder eigenständigen Phantasie sind. Es gibt Schriftsteller, die haben hundert geniale Romananfänge in den Schubladen liegen und kommen nicht weiter; Lenny Kravitz dagegen verzweifelt daran, daß ihm immer nur ein gutes Songende einfällt. Verträumt und ein wenig traurig, verloren in der Popgeschichte, schmiegt er sich im blauen Scheinwerferlicht ans Zeltgestänge und wünscht: »I wanna be your man«. Andernorts und zum Schluß, in seiner Weltverbesserungsphase fanden bis vor kurzem noch regelmäßig tausend fremde Hände bei »Let love rule« zueinander. Daß der Hit nur ein verkapptes »Hey Jude« ist, war den Leuten immer egal; freundetrunken sangen sie weiter, wenn der Sänger schon längst ganz woanders war. Im Tempodrom geschah nichts. Vielleicht hätte man gesungen, wenn man zum Mitsingen aufgefordert hätte. Dafür war man sich dann doch zu schade. Regen tröpfelte stattdessen auf die Bühne.
Detlef Kuhlbrodt
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