Neue Einsamkeit — ein uraltes Thema

■ Auf der Suche nach dem Thema: Die »Neue Einsamkeit« der Schwulen im Talk-SchwuZ am letzten Freitag

Berlin. Ein Vorurteil stimmt: Die Schwulen können feiern. Keine Szene gibt sich so häufig massenhafte Stelldicheins bei Show und Tanz wie die schwule Gemeinde. Selbst Magazine wie 'Magnus‘ oder 'Siegessäule‘ verlassen immer öfter das Feld der publizistischen Arbeit und investieren ihre Energie in die Zubereitung rauschender Nächte. Da ist es immer rappelvoll, jeder sieht jeden, und keiner bleibt allein.

Umso schwerer ließ sich da Talkmaster Lutz Ehrlich folgen, als er am letzten Freitag für seine allmonatliche Plauderrunde im Schwulenzentrum die »Neue Einsamkeit« der Schwulen als Thema anbot. Beweis für die gewagte These ist ihm der Bericht einer Schwulenberatungsstelle in Hamburg. Immer öfter kämen hilfesuchende Schwule und klagten über Einsamkeit, die coole Unwirtlichkeit der Szene und den Mangel an sozialen Kontakten.

Zwei Gäste hatte Lutz Ehrlich sich eingeladen, die ihm den Trend bestätigen sollten: der schwule Sexualwissenschaftler Martin Dannecker und Marc Wiltzius, Psychologe aus der Beratungsstelle für Schwule in der Kulmer Straße. Dannecker scheint ein sicherer Zeuge für die Rede über die »Neue Einsamkeit«, schließlich hat seine letzte empirische Untersuchung »Homosexuelle und Aids«, 1987 durchgeführt im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums, unter anderem ergeben, daß die Zahl onanierender Schwuler erstaunlich gestiegen ist. Zum Zahlenvergleich dient ihm die Studie über den »gewöhnlichen Homosexuellen«, die der Frankfurter Wissenschaftler 1974 zusammen mit Reimut Reiche vorgelegt hatte.

Doch so einfach will Dannecker der Gleichung je mehr Onanie, umso einsamer der Einzelne, nicht folgen. Doch mag er mit seinen aktuellen Ergebnissen belegen können, daß die Homosexuellen derzeit in einer Phase der sexuellen Verarmung leben und sich in wechselseitiger Onanie vom Leibe halten. Sein Schluß daraus: »Onanie wurde zum Ersatz für schwerer realisierbare sexuelle Kontakte.« Unter dem nachhaltigen Eindruck von Aids hat sich seiner Beobachtung nach die Stimmung in der Schwulenszene verändert; an die Stelle des »Alles ist möglich« ist die Depression getreten: »Die Phantasie ist verschwunden.«

Hatten schwule Männer in den 70er Jahren die sexuelle Liberalisierung so ernst genommen, daß sie die Sexualität leicht nahmen, so sind heute die Safer-Sex-Botschaften angekommen: Zum analen Kontakt, wenn er denn noch praktiziert wird, wird das Kondom aufgezogen. Und das, so Dannecker, evoziert immer Aids. »Aber was mich empört dabei«, schimpft der wichtigste Theoretiker der Schwulenbewegung, »ist das Verlangen, die Notwendigkeit des Kondoms auch noch reizvoll finden zu müssen.« Wenn ein Gummifetischist das lästige Ding erotisch besetzt, ist ihm das verständlich. »Doch diese Forderung an alle zu stellen, infantilisiert die Schwulen«, so Dannecker.

Von »Neuer Einsamkeit« will er dennoch nicht sprechen, das sei lediglich Geschwätz der Medien. Vielmehr lasse sich aufgrund seiner letzten Untersuchung von einer Heterosexualisierung der Homosexualität sprechen. Unüberhörbar ist inzwischen der Ruf nach staatlicher und kirchlicher Anerkennung homosexueller Partnerschaften. Dannecker: »Homosexuelle Beziehungen sollen so gelebt werden wie bei den Heterosexuellen.« Mit Treue und Trauschein.

Rund 60 Prozent der von ihm Befragten leben in Beziehungen, »und der Anteil der treuen Partner in Beziehungen ist deutlich gestiegen«. Aber auch die gegenläufige Entwicklung der Homosexualisierung der Heterosexualität will er nicht unter den Tisch fallen lassen. Vielmehr Heterosexuelle leben heute allein, das Single-Dasein ist nicht mehr reserviert für Homosexuelle. Auch Promiskuität, früher vor allem dem schwulen Lebensstil zugerechnet, ist schon lange nicht mehr ein Privileg der Gleichgeschlechtlichen.

Auch der zweite Talkgast, Marc Wilzius, will so schnell nicht von »Neuer Einsamkeit« sprechen. Zwar kann er aus seiner Praxis bestätigen, daß die Nachfrage derer, die sich einsam fühlen, zugenommen hat. Und daß es eine Tendenz gäbe, sich aus der Subkultur, aus den sozialen Kontakten zurückzuziehen. Doch möchte er diese Beobachtungen anders erklären: »Früher gab es eine Schwulengruppe, an die man sich wandte«, so der Psychologe. »Doch heute hat sich das Angebot mit Mänerchor, Sportverein und Coming- out-Gruppe dermaßen differenziert, daß der einzelne sich genau überlegen muß, wohin er geht.« Außerdem sei das Problem der Einsamkeit nicht so neu, neu sei vielmehr, daß jene, die darunter leiden, heute den Weg zu schwulen Beratungsstellen finden — eine Möglichkeit, die es so lange auch noch nicht gibt. »Das ist doch positiv, wenn man heute zu einem schwulen Psychologen gehen kann und nicht mehr wie früher zu irgendeinem Hetero.«

Wurde die »Neue Einsamkeit« an diesem Abend zunehmend als »uraltes Problem« (Dannecker) entblättert, so blieb doch eine ganz andere Erkenntnis zurück: Die Möglichkeiten der Verständigung von Schwulen untereinander haben sich rapide verschlechtert. Voller Empörung reagierte das vorwiegend junge Publikum im vollbesetzten Zentrum vor allem auf die Äußerungen Danneckers.

Wenn er von Sexualität sprach, verstanden sie Sex und wehrten sich heftig gegen Danneckers Polemik gegen das Zeitgemäße. So leicht wollten sich die Zuhörer ihren verordneten Spaß am Kondom und den Safer-Sex-Parties nicht nehmen lassen. Und hinter den abstrahierenden Reden des Wissenschaftles fehlte es ihnen an Gefühl und persönlichem Verständnis. Da mag die Inflation schwuler 'Magnus‘-Parties nicht weiter verwundern, funktionierte doch das schlichte Augenzwinkern auf der Tanzpiste allemal einfacher als das beschwerliche Reden im Detail. Elmar Kraushaar