Schwebende Gondeln und Großparis

Zum 9. Internationalen Comic-Salon in Barcelona, Thema: „Städte der Zukunft“  ■ Von Martin Frenzel

Die in schnörkellos- funktionalistischem Gitter-Ambiente präsentierte Werkschau des futuristischen Urbanismus in Comicform hätte wohl kein geeigneteres Forum finden könne als den 9.Internationalen Comic-Salon von Barcelona. Ausgerechnet an Antoni Gaudis Wirkungsstätte waren da imposante Städte-Visionen von Comic- Künstlern wie Moebius, ein „schwereloses“ Venedig der Zukunft mit schwebenden Gondeln von dem Comic-Kunstarchitekten Fran¿ois Schuiten und Enki Bilals beklemmendes Horrorszenario eines Groß- Paris im Jahr 2023 versammelt. Ob Frank Millers Anti-New-York-Version im Dark Knight-Batman, Mézières' Metropolis im SF-Epos Valerian und Veronique oder Katsuhiro Otomos obskures Neo-Tokio postatomarer Prägung des Jahres 2030 im Kultcomic Akira — die Ausstellung bot den über 100.000 Besuchern in der alten Jugendstilhalle des Mercat del Born Einblick in die enorme graphische wie erzählerische Stilvielfalt des Mediums.

Dank solch herausragender Comic-Autoren wie Miguelanxo Prado, Ruben Pellejero/Jorge Zentner und Daniel Torres, Alfonso Font und Jordi Bernet/Sánchez Abuli ist Spanien nachgerade — neben Großbritannien — zu dem vielleicht innovativsten Trendsetter der europäischen Comic-Szene avanciert. Barcelona, momentan hin- und hergerissen zwischen traditionellem Jugendstil-Modernisme und hypermodernem Olympia'92-Brimborium, lag vier Tage lang im „Tebeos“-Fieber (wie die Comics in Spanien nach der erstmals 1907 publizierten Renommier-Comic-Zeitschrift 'TBO‘ auch genannt werden): Über 120 Verlage dokumentierten im Mercat del Born den aktuellen Stand der Comic-Produktion der Iberischen Halbinsel. Zudem kamen erstmals rund 30 Comic-Verlage aus Frankreich/Belgien, Italien und Großbritannien, Griechenland, Chile, Hongkong und sogar der Sowjetunion (der Moskauer Comic-Verlag Progress) in die katalanische Kulturmetropole. Aus Deutschland kamen der Berliner Elefanten-Press-Verlag, die Titanic- und Semmel-Verlach-Leute sowie der Carlsen-Verlag, comicplus/ Luxor, die Agentur Becker-Derouet und die Edition Kunst der Comics.

Nichts kennzeichnet das neugewonnene Renommee der spanischen Post-Franco-Comic-Generation besser als die in diesem Jahr geballte Präsenz der internationalen Starprominenz: so war Altmeister Hugo Pratt, Vater der Südseeballade und der Comic-Abenteuerroman-Reihe Corto Maltese, gekommen, wohl auch deshalb, weil er seinen um die Welt bummelnden Antihelden Corto nun in die Wirren des Spanischen Bürgerkriegs 1936 entführen will. Bekannt ist der 62jährige in der Schweiz lebende italienische Kosmopolit für seine expressionistische Silhouettengraphik und stimmungsvoll-epische Erzählweise. Soeben auf deutsch erschienen ist der farbige Corto Maltese-Comicroman Und immer ein Stück weiter (Carlsen- Verlag), der in den Urwäldern im Amazonas des Jahres 1916 spielt.

Bereits 1990 wurde Art Spiegelman in Barcelona für den ersten Teil seiner Katz und Maus-Parabel über den Holocaust preisgekrönt; im Juli nun will er MausII fertigstellen. In Barcelona war ihm eine Werkausstellung gewidmet, die auch seine frühen Comics der Undergroundphase der sechziger und siebziger Jahre vorstellte. Sein Avantgarde- Comic-Magazin 'RAW‘ (das auch etliche europäische Künstler in den USA publik machte, wie etwa Mûnoz/Sampayo, Enzo Mattotti, Joost Swarte und Jacques Tardi) hat Spiegelman nun übrigens aufs kleine Maus-Buchformat verkleinert, „weil wir den Comic als literarisches, nicht mehr wie bisher als graphisches Medium zeigen wollen“.

Zu denen, die die Möglichkeiten des graphischen Erzählens im Comic voll ausschöpfen, zählt der 33jährige Galicier Miguelanxo Prado. Seine mit ätzendem Spott und in nuancenreicher Colorierung erzählten Episoden vom Täglichen Wahn (ein zweiter Band erscheint im Juni bei Ehapa) spiegeln die Unfähigkeit der Menschen, einander gewaltlos zu begegnen. Ob aggressive Bengels, die mit dem Spaten aufeinander losgehen, schrullige Landpomeranzen, wilde Straßenköter, in Spanien einfallende US-Marines („Ist das hier der Iran?“) oder hemmungslose Szenen im Autoverkehr — Prados Alltagssequenzen steigern die Pointe stets ins Absurde. Seine köstliche Film-noir- Parodie Manuel Montano (Text: Fernando Luna) über einen nächtens Ölsardinen verspeisenden Humphrey-Bogart-Verschnitt erhielt nicht umsonst in Angoulême den Preis als bestes ausländisches Comic-Album 1990.

Mit Beroy (999 und Dr. Mabuse) und Max (Der geheime Kuß) sind im Nürnberger „alpha comic“-Verlag zwei jüngere spanische Vertreter der New-Wave-Generation erschienen. Hierzulande kein Unbekannter mehr ist der 32jährige Daniel Torres, der mit seinem kantig-grellen New- Wave-Stil neue Maßstäbe setzte. Neuerdings gibt der bis dato eher für dürftige Massenzeichenware bekannte Bastei-Verlag in der Reihe „Comic Edition“ Torres' Edelcomic um den Erzschurken Sir Opium (Der Prinz des Bösen) heraus. Schon der erste Band, Inferno in der Mega- Stadt (Torres' Beitrag zum Thema „Städte der Zukunft“), bietet New- Waviges für Erwachsene.

Hauptpreisträger des Festivals von Barcelona (verliehen in jenem Hotel Oriente, wo George Orwell während des kurzen Sommers der Anarchie seine Hommage Mein Katalonien schrieb) war in diesem Jahr Jordi Bernet. Der 47jährige schuf mit dem Texter Sánchez Abuli 1980 die seither international bei der Kritik und beim Publikum reüssierende Gangsterserie Torpedo 1936, mit dem brutalen Mietkiller Luca Torelli als „Helden“ in der Zeit der US-Prohibition und Depression der dreißiger Jahre. Die Ambivalenz der schillernden Hauptfigur („His gun's for hire“), jene Mischung aus Gewalt, Erotik und Parodie des Dashiell- Hammett-Genres samt der ausgefeilten, grobstrichigen Schwarzweißgraphik, machen den Reiz der Torpedo 1936-Serie aus. Im Carlsen- Verlag sind bis dato fünf Alben erschienen (zuletzt Man lebt nur zweimal). Die besten Geschichten kamen freilich bislang nur bei Macao Books (Album Torpedo 1936, 1986) und in der Schwarzweiß-Kunst-Anthologie Macao — Internationale Comics (hrsg. von Karlheinz Borchert) heraus. Der sechste Macao-Band erscheint im Juni in der Edition Kunst der Comics.

Trotz finanzieller Probleme des Festivals (das Budget lag 1991 bei nur 47 Millionen Peseten, das sind etwa 750.000 Mark) und des Wechsels vom comicophilen Kulturminister Jorge Semprún zum Comic-Ignoranten Jordi Solé-Tura dürfte es auch 1992, im Jahr der Olympischen Spiele, wieder einen internationalen Comic-Salon in Barcelona geben.