: Wie wunderlich ist Wunderlich
■ Erhard Wunderlich kanonierte den TSV Milbersthofen als Spieler in die erste Bundesliga und führte ihn als Trainer zum 24:16-Europacupsieg der Pokalsieger gegen die spanische Mannschaft Bidasoa Irun
Berlin (taz) — 1983 sorgte der spanische Handball für eine Sensation: Der katalanische Nobelclub FC Barcelona überredete den deutschen Wunderwerfer Erhard Wunderlich zur Fortsetzung seiner eigentlich zu Ende gehenden Karriere. Man hatte ihn gezwungen — mit viel Geld. Mit 2,5 Millionen Mark für ein mehrjähriges Engagement. Der FC Barcelona wurde damals prompt spanischer Landesmeister und Europacupsieger der Pokalsieger.
Erhard Wunderlich kehrte trotzdem zurück nach Deutschland und sorgte für eine weitere Sensation: Er heuerte beim damaligen bayerischen Zweitligisten TSV Milbertshofen an, den der 2,04-Meter-Riese unverzüglich in die erste Liga kanonierte. Milbertshofens Präsident Ullrich Backeshoff besaß schon immer ein Gespür für extravagante Verpflichtungen: Linkshänder Oleg Gagin war der erste sowjetische Handballer in der Bundesliga, Skandaltrainer Vlado Stenzel erhielt beim TSV die letzte Chance seiner Rehabilitierung als Erfolgscoach. Er nutzte sie und führte Milbertshofen im vorigen Jahr zum nationalen Pokalsieg und aufs internationale Parkett.
Die ehrgeizige Vereinsführung wurde in diesem Jahr enttäuscht. In der Meisterschaft verpaßte das Team die Play-offs, im nationalen Pokal schied man aus — nur im Europacup blieben die Bayern erfolgreich und erreichten das Endspiel gegen Bidasoa Irun. Aber als das erste Endspiel in einem spanischen Hexenkessel mit 15:20 in die Hosen ging, wollten einige Milbertshofener selbige vor Enttäuschung bereits fallen lassen.
Nicht so Erhard Wunderlich, der inzwischen den Platz des Trainers eingenommen hatte. Er zog die Hosen wieder hoch, strammte die Träger und die Moral seiner Spieler und schickte sie gestärkt ins Rückspiel. Das fand nicht in der riesengroßen und deshalb gähnend leeren Münchner Sedlmayer-Halle statt, sondern in der Turnhalle von Augsburg. Sie war mit den 4.500 Zuschauern bereits überfüllt, die sich als wahre Antreiber für die angestrebte Aufholjagd erweisen sollten.
Torwart Jan Holpert sorgte zunächst mit tollkühnen Paraden für die Demoralisierung der Spanier, einen Vier-Tore-Vorsprung zur Pause und seine Nominierung für die Nationalmannschaft. Sie fährt in Kürze auf die Insel Rèunion zu einem Wettkampf-Urlaub, für den auch Aufbauspieler Hendrick Ochel als siebenfacher Torschütze buchen konnte. Mils Vorsprung schmolz jedoch noch einmal auf 14:12. Erst zwei Minuten vor Spielschluß kippte die Europapokal-Vase wieder zur Münchner Seite, als es 22:16 stand.
Damit war der Zeitpunkt des Auftritts einiger spanischer Funktionäre gekommen, die komplett entnervt das Spielfeld stürmten. Ein unbedeutender, für Handballspiele jedoch auch ungewöhnlicher Polizeieinsatz konnte das Parkett wieder zum sportlichen Treiben freiräumen und der TSV Milbertshofen erhöhte gar auf 24:16. Allerdings dauerte es noch einige Minuten nach Spielende, bevor die jugoslawischen Schiris alle Tore gezählt hatten. Es zappelten nämlich inmitten des Tumults noch zwei Bälle im Netz, die allerdings nicht galten.
„Wir sind von den Schiedsrichtern verschaukelt worden“, jammerte Iruns überragender Spielmacher und achtfacher Torewerfer Alfred Gislasson. Der Isländer führte einst den TuSEM Essen zur deutschen Meisterschaft und muß sich nun mit dem Temperament seiner spanischen Sportfreunde abfinden. „Wir hatten einfach die besseren Nerven“, analysierte Trainer Erhard Wunderlich, der die letzten Spielminuten auch nur vom Hörensagen kannte, weil er mittels einer roten Karte längst aus der Halle verbannt war.
Milbertshofens Präsident Backeshoff lief währenddessen freudestrahlend durch die Halle und schwenkte den Pokal, als hätte er höchstselbst die wichtigsten Tore geworfen: „Ich danke dem Augsburger Publikum.“ Nun darf sein TSV nämlich auch im nächsten Jahr auf den europäischen Handballparketts mittanzen. bossi
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