: Gelder gegen das Elend sind da
Neuer Bericht des UNO- Entwicklungsprogramms (UNDP) fordert die Setzung neuer Ausgabenprioritäten. Der Index zur Beurteilung der sozialökonomischen Lage von Bevölkerungen ist weit aussagekräftiger als das Bruttosozialprodukt. ■ AusGenfAndreasZumach
Wegen der Verschuldung der „Drittwelt“-Staaten und der Wirtschaftskrise in vielen Industrieländern sind keine Finanzmittel zur Sicherung wichtiger Grundbedürfnisse der meisten BewohnerInnen dieser Erde vorhanden. Gegen diese weitverbreitete Meinung wendet sich der diesjährige „Bericht über die menschliche Entwicklung“, der heute vom Büro des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) veröffentlicht wird. Erstellt wurde diese derzeit wohl umfangreichste und detaillierteste Publikation zur Lage der Menschen in 160 Staaten und die notwendigen Maßnahmen zu ihrer Verbesserung von führenden Wirtschaftsexperten aus allen Weltregionen unter Leitung des ehemaligen pakistanischen Planungs- und Finanzministers Mahbub al Haq. Seine Grundlage: UNDP-Recherchen in zahlreichen Ländern sowie Daten anderer UNO-Fachorganisationen, nationaler Regierungen und der Weltbank.
Die wichtigste Schlußfolgerung des 200seitigen Berichts: Die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verbesserung der sozialökonomischen Lage der Menschen vor allem in den Ländern der südlichen Hemisphäre sind durchaus vorhanden. Wegen „steigender Militärausgaben, ineffektiver Staatsunternehmen, teurer Prestigeprojekte, wachsender Kapitalflucht und umfangreicher Korruption“ würden jedoch „Ressourcen verschwendet und Möglichkeiten vertan“. Erforderlich sei „der politische Wille“ zur Setzung neuer Prioritäten und Kriterien sowohl in den nationalen Budgets der Länder des Südens, als auch bei den „Entwicklungshilfe“-Ausgaben der Industrienationen sowie eine Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Zur Beurteilung der sozialökonomischen Lage der Menschen in den einzelnen Staaten entwickelte die UNDP einen „Index der menschlichen Entwicklung“ — sehr viel realistischer und aussagekräftiger als die traditionell benutzte Kategorie des Bruttosozialprodukts (BSP) eines Landes. Die drei Hauptkriterien des Indexes: Lebenserwartung, Bildungsstand und Kaufkraft zur Sicherung eines „menschenwürdigen“ Lebensstandards.
Unter Zugrundelegung des Indexes mit diesen drei Hauptkriterien liegt Japan an der Spitze aller 160 Staaten. Die Bundesrepublik (noch ohne frühere DDR) nimmt Platz 14 ein. Letzter Staat des Nordens ist Rumänien (58). Von den Ländern des Südens schneidet Barbados als 22. Land am besten ab. Das Schlußlicht der Liste bildet Sierra Leone.
Bruttosozialprodukt wenig aussagekräftig
Bei einer Auflistung lediglich nach Größe des BSP — das im Übrigen nichts über die Verteilung von Reichtum und Einkommen unter den BewohnerInnen eines Landes aussagt — würden viele Staaten wesentlich besser abschneiden. So ist etwa das BSP in Saudi-Arabien (Platz 69 der UNDP-Indexliste) 15-mal höher als das Sri Lankas (75), der Bildungsstand seiner EinwohnerInnen jedoch geringer. Brasilien (60) verzeichnet eine doppelt so hohes BSP wie Jamaica (59), aber auch die vierfache Kindersterblichkeit. Obwohl sein BSP geringer ist als das der USA (8) liegt Kanada wegen einer höheren Lebenserwartung und eines besseren Bildungstandes seiner BürgerInnen auf Platz 2 der UNDP-Liste.
Die Rangfolge der UNDP-Liste verschiebt sich zum Teil erheblich, wenn über die drei Hauptkriterien hinaus zusätzliche Faktoren berücksichtigt werden — vor allem die unterschiedliche Teilhabe von Frauen und Männern an Einkommen, Arbeitsplätzen und Bildung. Die Diskrepanzen sind besonders auffällig in den Ländern des Südens. In den Industrieländern haben sich die Disparitäten zwischen Frauen und Männern zwar vor allem im Bereich der Grundbildung verringert. Aber sie sind zum Teil immernoch sehr groß hinsichtlich Universitätsstudium, Löhnen und Anteil am Arbeitsmarkt. Japan, wo die Frauen im Durchschnitt nur 26 Prozent der Einkommen der Männer verdienen, fällt dann von seiner Spitzenposition auf Platz 17, Finnland verbessert sich von Rang 12 auf den ersten Platz, die BRD leicht vom 14. auf den 12. Platz. Auch Beobachtungen über längere Zeiträume belegen laut UNDP-Bericht, daß das BSP als Maßstab für Entwicklung nur sehr beschränkt aussagekräftig, ja irreführend ist. Viele der am wenigsten entrwickelten Straaten (LDP) in Afrika haben zwischen 1970 und 1985 „gute Fortschritte“ bei der Entwicklung der sozialökonomischen Bedingungen ihrer EinwohnerInnen gemacht, obwohl das BSP nur gering anstieg oder sogar sank. Trotz dieser Fortschritte sind die Lebensbedingungen der Menschen auf dem afrikanischenn Kontinent immer noch weit schlechter im Vergleich zu Lateinamerika und Asien. Für die verschiedenen Regionen des Südens sind daher auch unterschiedliche Strategien zur Verbesserung der Situation notwendig, heißt es im UNDP-Bericht. 108 von 1.000 Babies werden in Afrika totgeboren, in Südost-Asien sind es 61, in Lateinamerika 52. Über die Hälfte der rund 450 Millionen AfrikanerInnen haben keinen Zugang zu öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Knapp zwei Drittel entbehren sauberes Trinkwasser. Die Zahl der arbeitslosen Afrikaner hat sich zwischen 1979 und 1989 auf 100 Millionen vervierfacht. Und: Die afrikanischen Staaten sind am stärksten betroffen vom „brain drain“ — der Abwanderung von Fachkräften, die unerläßlich sind für die künftige Entwicklungen. So arbeiten zum Beispiel vier Fünftel der Ärzte Ghanas heute im Ausland.
Aber Afrika hat nach Analyse der UNDP-Experten das Potential für eine bessere Zukunft. Voraussetzung wären „massive Investitionen für die menschliche Entwicklung — vor allem in den Bereichen Primärbildung, Basisgesundheitsdienste, Ernährung, Trinkwasser und Hygiene“. Außerdem bedürfe es einer weitgehenden Neustrukturierung der Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten.
Am andern Ende des Spektrums liegen die lateinamerikanischen und karibischen Staaten, in denen nach UNDP-Einschätzung „eindrucksvolle Fortschritte“ bei der Verbesserung der sozialökonomischen Bedingungen gemacht wurden. So ist etwa die durchschnittliche Lebenserwartung in Barbados, Costa Rica und Cuba heute höher als in manchen Industriestaaten des Nordens. Doch auch in Lateinamerika wurde die Entwicklung in den 80er Jahren „verlangsamt“ durch die starke Verschuldung bei Industrienationen und Weltbank, hohe Zinsen auf den Weltkapitalmärkten, Importbarrieren in den Industrieländern und gesunkene Weltmarktpreisen für eine Reihe von Rohstoffen. Der Lebensstandard vieler Lateinamerikaner ist gesunken, und in den meisten Ländern steigen Mangelernährung und Kindersterblichkeit wieder an.
Wenig Entwicklungshilfe für prioritäre Programme
Die Entwicklung in Asien ist je nach Region sehr unterschiedlich. Auf Grund rapider Fortschritte im Gesundheitswesen, bei der Ausbildung und beim wirtschaftlichen Wachstum könnten sich die meisten Länder Ost- und Südostasiens heute mit den Industriestaaten des Nordens vergleichen, heißt es im UNDP-Bericht. So liegt etwa die durchschnittliche Lung in Hongkong mit 77 Jahren so hoch wie in Kanada. Südasien gehört jedoch zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen der Welt. Die Alphabetenrate von 42 Prozent ist die niedrigste im internationalen Vergleich. Ungleichheiten zwischen Reichen und Armen, Männern und Frauen sowie verschiedenen Gebieten und ethnischen Gruppen sind sehr stark. Wirtschaft, Pro- Kopf-Einkommen oder der Ausbildungsgrad von Frauen sind in den letzten 20 Jahren kaum angestiegen.
Einen „gravierenden Kontrast“ zwischen den Niveaus von Bruttosozialprodukt und menschlicher Entwicklung registriert die UNDP für die arabischen Staaten. Über 30 Jahre verzeichneten sie vor allem wegen der Ölexporte die weltweit höchsten Zuwächse beim Pro-Kopf- Einkommen. Zwischen 1960 und 1988 stieg auch die Lebenserwartung von 47 auf 62 Jahre. Dennoch: Über 40 Millionen Menschen leben in der arabischen Welt immer noch unterhalb der Armutsgrenze. 60 Millionen Erwachsene sind Analphabeten.
Der Bericht kritisiert, daß derzeit nur ein Zwölftel der „Entwilunghilfe“ der Industriestaaten und weniger als zehn Prozent jährlicher Haushalte der „Drittwelt“-Staaten tatsächlich Programme und Ziele zukommen, die „prioritär für die meschliche Entwicklung sind“. Als solche definieren die UNDP-Experten Primärbildung, Basisgesundheitsdienste, ländliche Wasserversorgung, Familienplanung, Nahrungsmittelversorgung und soziale Sicherheit.
Der Gesamtumfang der „Entwicklungshilfe“-Zahlungen betrug 1990 mit nur 0,3 Prozent des Bruttosozialprodukts der Industrienationen weniger als die Hälfte der schon vor Jahren von UNO-Organisation empfohlenen 0,7 Prozent. Drei Viertel dieser Summe flossen in Großprojekte, von denen die Bevölkerung der Empfängerländer nicht profitierten oder unter denen sie sogar litten, sowie in die „oft überhöhten Gehälter“ von Experten aus den Industrienationen, kritisiert der UNDP-Bericht. So erhielten etwa die afrikanischen Staaten im letzten Jahr allein sechs Milliarden US-Dollar „technischer Unterstützung, die der einheimischen Bevölkerung und der Verbesserung ihrer lokalen Infrastruktur kaum zugute kamen. Nur ein Viertel aller „Entwicklungshilfe“-Zahlungen ging in den Sozialsektor, davon aber wiederum nur ein Drittel (also ein Zwölftel der gesamten „Entwicklungshilfe“) in die oben genannten prioritären Programme für die menschliche Entwicklung. Hierbei sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Geberländern allerdings gravierend. So waren die Finanzmittel aus den vier skandinavischen Staaten, die diesen prioritären Programmen zugute kamen, achtmal so hoch, wie die der USA, die der Niederlande sogar zehnmal. Die Bundesrepublik lag 1990 auf der Mitte zwischen diesen Extremen. Die UNDP-Experten verlangen eine Erhöhung der „Entwicklungshilfe“-Ausgaben. Allein durch eine Kürzung der Militärausgaben in den Industrienationen um drei Prozent wären jährlich zusätzlich rund 25 Milliarden US-Dollar für diesen Zweck vorhanden. Mindestens 20 Prozent aller Entwicklungshilfezahlungen sollten für soziale Programme zweckbestimmt werden und davon wiederum Prozent für die oben genannten prioritären Aufgaben. Geber- und Empfängerländer sollten vereinbaren, daß mindestens fünf bis sieben Prozent des Bruttosozialprodukts des Empfängerlandes für den Sozialsektor verwendet werden. Zahlungen an ein Empfängerland, das für Militär mehr ausgibt, als für die Gesundheitversorgung und Bildung sollten eingestellt werden, empfiehlt die UNDP.
Zur Finanzierung der prioritären Entwicklung ließen sich nach UNDP-Berechnungen aber auch jährlich rund 50 Milliarden US-Dollar durch eine Veränderung der Haushaltprioritäten in den „Drittwelt“-Ländern finden. Ein Großteil dieser Summe käme bereits durch das Einfrieren der Militärausgaben auf den jetzigen Stand zusammen. Im Durchschnitt gaben die Länder des Südens 1990 5,5 Prozent ihres BSPs für Militärisches aus. Milliardenbeträge ließen sich auch durch einen Stop der Kapitalflucht ins Ausland, durch eine Bekämpfung der Korruption sowie durch eine Reform von Staatsunternehmen sichern. Die durch Kapitalflucht der nationalen Volkswirtschaft entzogene Summe betrug etwa auf den Phillipinen in den Jahren 1962 bis 1986 80 Prozent der Auslandsschulden des Landes. Die Bestechungsgelder, die an Pakistani in offiziellen Positionen fließen, werden auf vier Prozent des Bruttosozialprodukts geschätzt. Die Verluste der staatlich geführten Unternehmen in Kamerun sind höher als die Öleinnahmen dieses afrikanischen Staates.
Die UNDP macht sich zwar nicht die Forderung nach einem Schuldenerlaß zu eigen, die inzwischen von den meisten Staaten des Südens und vielen Entwicklungsexperten in den Industrienationen erhoben wird. Vorgeschlagen wird aber eine „Umstrukturierung“ (z. B. zeitliche Streckung) der Schuldenzahlungen vor allem in den Länden, wo diese Zahlungen inzwischen einen Großteil des jährlichen Haushalts auffressen und weit höher sind als die Ausgaben für die soziale Versorgung der Bevölkerung.
„Freiheitsindex“ als neuer Indikator
Zusätzlich zum „Index der menschlichen Entwicklung“ enthält der diesjähige UNDP-Bericht zum erstenmal für 88 Staaten einen „Freiheitsindex“. „Zur Beurteilung der Lebenssituation der Menschen in irgendeinem Land sind Informationen über die Einhaltung grundlegender Feiheiten unerläßlich“, erklären die AutorInnen des Berichts. Basis des „Freiheitsindexes“ sind die 40 politischen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges in der „universellen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO sowie in einer Reihe von internationalen Konventionen niedergelegt wurden. An der Spitze rangiert Schweden, wo nach Beobachtung der UNDP 38 dieser 40 Menschenrechte garantiert sind. Die BRD liegt mit 35 garantierten Rechten an neunter Stelle, Costa Rica als bestes „Drittwelt“-Land auf Platz 18. Das Schlußlicht bildet der Irak, in dem laut UNDP keines der 40 Menschenrechte gewährleistet ist. Die Daten für diese Liste sind allerdings zum Teil älteren Datums. Daher sind jüngste Entwicklungen, wie die freien Wahlen in osteuropäischen Staaten oder Chile noch nicht berücksichtigt.
Die UNDP betont die „hohe Korrelation“ zwischen den beiden Indexen. Kein Land, das hinsichtlich der menschlichen Entwicklung im oberen Drittel der Liste steht, landete im unteren Drittel der Freiheitswertung. Und von den 31 Staaten, die bezüglich der dort existierenden Freiheiten im unteren Drittel liegen, schneiden 17 entsprechend schlecht bei der menschlichen Entwicklung ab, elf erreichten einen Mittelplatz und nur drei liegen im oberen Drittel. „Die Existenz menschlicher Freiheiten bringt erst die notwendigen kreativen Energien eines Volkes zur Verbesserung seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage hervor“, begründet der Pakistani Mahbub ul Haq diese Korrelation.
Der UNDP-Bericht befaßt sich auch mit dem „erheblichen menschlichen Elend in vielen Industrienationen des Nordens“ und konstatierte eine fortschreitende „Schwächung der sozialen Zusammenhänge“. In den westlichen Industriestaaten leben über 100 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze — in den USA allein 32 Millionen (13 Prozent der Gesamtbevölkerung, davon 40 Prozent unter 18 jahren und 31 Prozent Schwarze). Die Lebenserwartung schwarzer Männer in New Yorks Stadtteil Harlem liegt mit 46 Jahren unterhalb der der Bevölkerung Bangladeschs. Die sechs osteuropäischen Staaten miteingeschlossen, beträgt die Zahl der Armen sogar 200 Millionen. Neben der hohen, stetig wachsenden Rate von Drogentoten, Vergewaltigungen und Selbstmorden in den Staaten des Nordens weist der UNDP-Bericht auch auf die Not psychisch kranker Menschen hin: „Seit 1820 haben in den USA nicht mehr so viele psychisch Kranke ohne ärztliche Versorgung im Gefängnis, auf der Straße oder in Obdachlosenunterkünften gelebt wie heute.“ Wenn die bereits angekündigten Kürzungen der Militäretats tatsächlich realisiert würden, sei für die 90er Jahre mit einer „Friedensdividende“ von rund zwei Billiarden US-Dollar zu rechnen, die zur Überwindung des menschlichen Elends im Norden wie im Süden eingesetzt werden sollten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen