: Öko-Krieg um einen Allerweltskunststoff
Umweltwelle bringt Chlorwerkstoff PVC zunehmend in Verruf/ Die fünf „Umweltweisen“ der Bundesregierung verlangen Verbot des Massenkunststoffs in Verpackungen/ Töpfers Verpackungsverordnung bringt vorerst „Grünen Punkt“ statt Verbot ■ Von Gerd Rosenkranz
Den fünf Umweltweisen ging es wie allen, die sich in dieser Zeit über den Allerweltskunststoff Polyvinylchlorid (PVC) ihre eigenen unabhängigen Gedanken machen: Kaum hatte der „Sachverständigenrat für Umweltfragen“ — so der offizielle Name der obersten Öko-Berater der Bundesregierung — im vergangenen November sein 1.300 Seiten umfassendes Sondergutachten „Abfallwirtschaft“ veröffentlicht, lag auch schon die geharnischte Antwort auf dem Tisch. Das professorale Gutachtergremium falle hinter den „aktuellen Stand der Diskussion“ zurück, übernehme „unreflektiert Vorurteile“ und hätte besser „im Dienste der Umwelt seine Unabhängigkeit gewahrt“. Als Absender der rüden Replik zeichnete die „Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt e.V.“, eine ausgesprochen penetrante Reklametruppe der Kunststoffindustrie.
Was war geschehen? Die Gutachter, denen Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) fast überschwenglich eine „hervorragende wissenschaftliche Arbeit“ attestierte, hatten in den Unterpunkten 770 bis 775 ihres voluminösen Werkes die Öko-Bilanz der ungezählten PVC-Produkte zusammengefaßt. Ergebnis: Der Massenkunststoff ist in vielerlei Hinsicht ökologisch bedenklich. Der Bundesregierung empfahlen die Umweltweisen „das sofortige und vollständige Verbot von Cadmium in Verbindung mit PVC-Produkten“ und „das Verbot von PVC als Verpackungsmaterial“. Außerdem müßten verstärkt umweltfreundliche Ersatzstoffe entwickelt werden, „die es erlauben auf PVC in immer mehr Anwendungen zu verzichten“. Damit gaben die Regierungsberater das Startzeichen für eine neue Runde einer alten Auseinandersetzung, die von der betroffenen Wirtschaft zunehmend nach Art eines Glaubenskrieges geführt wird.
Gummistiefel und Margarinebecher
Wundern kann das nicht, denn der aus den Grundstoffen Erdöl und Chlor produzierte Kunststoff ist billig, verarbeitungsfreundlich, leicht und praktisch universell einsetzbar. Ob Fensterrahmen, Wasserrohr oder Fußbodenbelag, ob Kabelummantelung, Gartenschlauch oder Gummistiefel, ob Margarinebecher, Klarsichtfolie oder Plastikspielzeug — der Massenkunstoff Polyvinylchlorid ist buchstäblich überall. Sechs Hersteller produzieren hierzulande jährlich etwa 1,4 Millionen Tonnen PVC. Der Löwenanteil geht mit 60 Prozent in den Bausektor, 17 Prozent verbraucht die Verpackungsbranche, je vier Prozent wandern in die Autoindustrie, die Elektrotechnik und die Möbelfertigung.
Fast ebenso vielfältig wie die Anwendungspalette dieses Massenprodukts der Chlorchemie ist die Liste der unerfreulichen Nebenerscheinungen. Dabei macht nicht in erster Linie der reine Stoff und seine bestimmungsgemäße Verwendung den Werkstoff PVC zum ökologischen Problemkind. Entscheidend ist auch hier, was am Ende rauskommt. Und was reingeht, muß man hinzufügen.
Das Ausgangsprodukt Chlor (Cl) wird über stromfressende Elektrolyseverfahren gewonnen, meist unter Verwendung quecksilberhaltiger Elektroden (Amalgamverfahren). Das giftige Metall Quecksilber gelangt dabei über Abluft und Abwasser auch heute noch tonnenweise in die Umwelt. Den zweiten Grundstoff für den PVC-Baustein Vinylchlorid bildet zumeist das Erdölprodukt Ethylen (C2H4). Chlor und Ethylen werden in einem mehrstufigen chemischen Prozeß zu Vinylchlorid (C2H3Cl, kurz: VC) zusammengefügt, dem Grundbaustein des PVC.
Die sogenannte Polymerisation des Vinylchlorids, bei der das „monomere“ Vinylchlorid-Molekül zu kettenförmigen „polymeren“ PVC- Riesenmolekülen zusammengekocht wird, führte Anfang der siebziger Jahre zu ersten heftigen Diskussionen über die verheerenden Folgen des PVC-Produktionsprozesses für die betroffenen Arbeiter. Damals hatte sich herausgestellt, daß Vinylchlorid üble Erkrankungen bis hin zu Knochenschwund an Zehen und Fingern und Degenerationserscheinungen des Hautbindegewebes auslöste. Und: Der PVC-Grundstoff war verantwortlich für eine spezielle Form des Leberkrebses. Seither gilt in den Produktionsstätten, wie es in einer Veröffentlichung des TÜV Rheinland heißt, „ein wesentlicher Teil des technischen Aufwandes der Verhinderung von Vinylchlorid-Emissionen und der Entmonomerisierung des Produkts“. Die Entmonomerisierung soll verhindern, daß das PVC-Produkt auch noch im Gebrauch Reste des cancerogenen (krebserregenden) PVC-Bausteins VC ausdünstet. Vollständig gelingt dies freilich nie. Und weil es für krebserregende Stoffe grundsätzlich keine unschädlichen Konzentrationen gibt, wollen Umweltschützer PVC-Produkte schon lange ersetzen, wo immer es möglich ist.
PVC in Pflanzen, Fischen und menschlichem Gewebe
Schlimmer noch könnte sich in Zukunft auswirken, was den uns umgebenden PVC-Produkten sonst so alles beigemengt wird, um dem an sich spröden und „unbequemen“ Kunststoff für die vielfältigen Anwendungen die jeweils passenden Eigenschaften zu verpassen. Die zumeist als „Weichmacher“ eingesetzen gesundheitsschädlichen Phtalsäureester (insbesondere der Zungenbrecher Diethylhexylphtalat, DEHP) „gasen“ während der Produktion aber auch noch beim Gebrauch aller sogenannten Weich-PVC-Produkte allmählich aus. Wer einen noch frischen PVC-Bodenbelag oder einen Neuwagen sein eigen nennen kann, kennt den unangenehmen Geruch. Der Umweltschadstoff DEHP belastet heute nicht nur ganz allgemein die Umgebung der PVC verarbeitenden Betriebe, er wurde in Pflanzen, Fischen und auch schon im menschlichen Fettgewebe nachgewiesen.
Eine weitere Gruppe des PVC- Giftcocktails stellen die vor allem zum besseren Verarbeiten eingesetzten sogenannten „Stabilisatoren“ dar, die überwiegend hochgiftige Metalle wie Barium, Cadmiun, Zink und vor allem Blei enthalten. Das krebserregende Cadmium wird zwar von der Industrie zunehmend ersetzt (1990 gingen nach Angaben der PVC-Industrie noch 250 Tonnen in PVC-Produkte), Kabelhüllen werden jedoch nach wie vor ausschließlich mit Bleiverbindungen stabilisiert. Die Umweltweisen sprechen von 20.000 Tonnen Blei in PVC-Produkten pro Jahr, die PVC-Industrie von 8.500 Tonnen für das Jahr 1985). Unproblematisch sind auch die „anorganischen Pigmente“ nicht, die beim PVC alles so schön bunt machen: Bei den Farbstoffen handelt es sich durchweg um Verbindungen, die toxische (Schwer-) Metalle wie Chrom, Nickel, Titan, Antimon und Blei enthalten.
Schließlich steht der chlorhaltige Kunststoff PVC auch noch in Verdacht, seinen Teil zur schleichenden Verseuchung der Umwelt mit hochgiftigen Dioxinen und Furanen beizutragen. Wann und wo immer hierzulande eine Feuersbrunst ein Gebäude ereilt, belasten die aus Seveso bekannten Horrorgifte Rauch und Brandasche je nach der Menge der am Bau eingesetzten PVC-Bauteile. Eine Gefahr nicht nur für Anwohner und Feuerwehrleute, sondern auch für jene, die später „entsorgen“ müssen, was das Feuer übrig läßt.
Fast 50 Prozent trägt allein das PVC zur gesamten, im Hausmüll versammelten Chlorfracht bei. Etwa ein Drittel dieser Hinterlassenschaft unseres Wohlstands wandert gegenwärtig in die Öfen der Müllverbrennungsanlagen (MVA). Dabei entstehen unbestritten große Mengen des chemisch agressiven Salzsäuregases (HCl), das größtenteils mit aufwendigen Filteranlagen zurückgehalten wird. Für die in der Abluft jeder MVA nachweisbaren Dioxine und Furane sind nach den Versicherungen der PVC-Industrie jedoch ausschließlich andere chlorhaltige Stoffe verantwortlich. Dies hätten Versuche ergeben, bei denen der PVC-Einsatz gezielt variiert wurde, ohne daß sich die Giftfrachten aus den MVA-Kaminen veränderten. Umweltschützer bleiben skeptisch, zumal auch die Industrie eine plausible Erklärung für ihre überraschende Erkenntnis bisher schuldig geblieben ist.
PVC-Recycling scheitert an wilder Mischung
Mit großflächigen Anzeigen in Zeitungen, aufwendigen Werbekampagnen und einer wahren Materialflut für die Journalisten versucht die PVC-Branche gegenwärtig, dem galoppierenden Niedergang ihres Images gegenzusteuern. In Werbetexten, die stets eine gewisse Atemlosigkeit ausstrahlen, malt die „Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt“ insbesondere die Möglichkeiten zum PVC-Recycling in den rosigsten Farben. Doch genau hier melden die Umweltweisen der Bonner Regierung ihre Zweifel an: Gerade dieser Kunststoff, der vom Laien kaum von anderen, nicht chlorhaltigen Materialien unterschieden werden könne, schränke „die Verwertungsmöglichkeiten der gemischten Kunststoffraktion erheblich ein“, heißt es im Sondergutachten „Abfallwirtschaft“. Tatsächlich scheitern Recycling-Erfolge bisher regelmäßig daran, daß Plastikmüll stets nur in wilder Mischung verfügbar ist. PVC wird in industriellem Maßstab praktisch nur aus „sortenreinen“ Abfällen der Hersteller selbst oder für minderwertige Produkte aus sogenannten Mischabfällen wiederverwendet.
Immerhin, einen Etappensieg können die PVC-Lobbyisten auf ihrer Haben-Seite verbuchen: Das vom „Sachverständigenrat für Umweltfragen“ eingeforderte PVC-Verbot für Verpackungen wurde aus der jetzt vom Bundesrat verabschiedeten Verordnung vorerst gestrichen. Vorerst, denn der Kampf geht weiter. Nach den Grünen verlangen auch die Sozialdemokraten in Bonn, den Problemwerkstoff aus Verpackungen zu verbannen. Umweltminister Töpfer hat sich verpflichtet, bis zum 1. Oktober nachzubessern und eine Extra-Verordnung mit Materialverboten vorzulegen. Mindestens bis es soweit ist, müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, daß die von der nun gültigen Verordnung erfaßten Verpackungen — als „Orientierungshilfe für den umweltbewußten Verbraucher“, zwitschert die Verpackungsindustrie — mit einem „Grünen Punkt“ gekennzeichnet werden. Auch die aus PVC.
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