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Angst vor einer neuen Welle der Gewalt

■ Die Ermordung des ehemaligen Premierministers Gandhi hat in Indien Bestürzung ausgelöst. Die Kongreßpartei spricht von einer "Verschwörung zur Destabilisierung des Landes". Schon bald nach dem...

Angst vor einer neuen Welle der Gewalt Die Ermordung des ehemaligen Premierministers Gandhi hat in Indien Bestürzung ausgelöst. Die Kongreßpartei spricht von einer „Verschwörung zur Destabilisierung des Landes“. Schon bald nach dem Attentat wurden aus dem ganzen Land Ausschreitungen gemeldet. Bei den inzwischen verschobenen Wahlen könnten die fundamentalistischen Hindus von Gandhis Tod profitieren.

Ich habe vorausgesagt, daß es viel Gewalt während dieser Wahl geben wird. Schon jetzt ist die Zahl der Getöteten sehr hoch“, sagte der ehemalige indische Regierungschef Rajiv Gandhi am Dienstag in einer Wahlveranstaltung. 90 Minuten später war er selbst tot. Eine in einem Blumenkorb versteckte Sprengladung hatte den Spitzenkandidaten der Kongreßpartei und sechzehn seiner Begleiter zerfetzt. Das Attentat in Sriperumbudur, einem Ort unweit von Madras, der Hauptstadt des südlichen Unionstaates Tamil Nadu, hat nicht nur in Indien große Bestürzung ausgelöst. Die Angst vor einer neuen Welle der Gewalt liegt über dem Subkontinent.

Nachdem Gandhis Ermordung bekannt geworden war, versammelten sich in der Nacht zum Mittwoch Tausende von aufgebrachten Kongreß-Anhängern vor Gandhis Haus und der benachbarten Kongreßpartei-Zentrale. Weinende Menschen saßen am Straßenrand, wartend auf Neuigkeiten oder auf die Ankunft von anderen Politikern. Die hilflose Wut über die Ermordung kippte über in eine aggressive Stimmung. Die Trauernden ließen ihre Gefühle an den nächstliegenden Zielen aus. Auslandskorrespondenten, die sich ebenfalls dort versammelt hatten, wurden als CIA-Spione beschimpft und bedroht, einige auch verprügelt.

In den frühen Morgenstunden zog ein Mob von etwa zehntausend Menschen zu der nahegelegenen Residenz des früheren Arbeits- und Wohlfahrtsministers Ram Vilas Paswan und zündete das Haus an. Paswan, der sich zu dieser Zeit nicht dort aufhielt, war Mitglied der Janata- Dal-Regierung unter V.P. Singh. Er gilt als Verfechter des Mandal-Reports, der die Quotierung von Staatsjobs in der Verwaltung zugunsten der benachteiligten Kasten forderte. Der Angriff auf sein Haus wird von Beobachtern als möglicher Anfang von kastenmotivierten Auseinandersetzungen gesehen.

Ein Opfer der Volkswut wurde auch Präsident Venkataraman. Als er in der Kongreß-Zentrale eintraf, fielen Menschen über sein Auto her und zerschlugen die Fensterscheiben.

Polizei und Armee in Alarmbereitschaft

Am Mittwoch morgen war es dann wieder still in Delhi. Unnatürlich still. Geschäfte, Büros und Schulen waren geschlossen, Bus- und Schienenverkehr stillgelegt und die Straßen leer. Doch vor einzelnen Gebäuden sammelten sich die Menschen. So zum Beispiel vor dem Nehru Memorial Museum, wo Rajiv Gandhis Leiche aufgebahrt werden soll — wie 1984 seine ebenfalls ermordete Mutter Indira Gandhi.

Die Menge trauerte zum Teil schweigend um den ermordeten Ex- Regierungschef, zum Teil herrschte aggressive Stimmung. Antiamerikanische Slogans wurden skandiert. Berittene Polizei hielt die Menge in Schach. Regierungsgebäude und Häuser wichtiger Politiker wurden weiträumig abgesperrt. Offene Lastwagen der Armee patrouillierten in der Innenstadt von Delhi. Die Soldaten wirkten nervös mit ihren Maschinengewehren im Anschlag. Die Polizei kontrolliert Autos an Straßensperren.

„Die indische Politik wird ärmer sein ohne Rajiv“, sagte am Morgen der Pressesprecher der Janata Dal Partei, Jaipal Reddy. „Es ist auch ein Anschlag gegen die indische Demokratie.“ Jaipal Reddy sieht aber nicht die Gefahr von weiteren Gewaltakten im Lande. „Das seltsame an diesem Anschlag ist, daß er gegen Rajiv Gandhi gerichtet war, der von allen Parteiführern eigentlich der Unumstrittenste war.“

Als Verantwortliche verdächtigt werden die Tamil Tigers, die Befreiungsarmee der Tamilen in Sri Lanka. Als Premierminister hatte Rajiv Gandhi indische Truppen nach Sri Lanka geschickt, um den Bürgerkrieg zwischen Singhalesen und Tamilen in den Griff zu bekommen. Im indischen Staat Tamil Nadu, der auch eine tamilische Bevölkerung hat, schränkte Gandhi die Unterstützung der Tamil Tigers (LTTE) radikal ein. Die Tamil Tigers haben die Verantwortung für den Anschlag weit von sich gewiesen und einen angeblichen tamilischen Bekenneranruf dementiert.

Rätselraten herrscht auch über das Motiv des Attentats. Die Bofors-Bestechungsaffäre wird oft genannt, bei der der schwedische Rüstungskonzern Bofors hohe Bestechungsgelder an indische Politiker gezahlt haben soll, um Waffen an das Land zu verkaufen. Die Affäre ist nie vollständig aufgeklärt worden. Jetzt erinnert man sich in Indien an die Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme.

Die Regierung hat bereits eine Untersuchungskommission eingesetzt, die den Mord an Rajiv Gandhi aufklären soll. Und die Wahlkommission hat die noch ausstehenden Wahltage, die für heute und Sonntag geplant waren, auf den 12. und 15.Juni verschoben. Die Ergebnisse vom vergangenen Montag, dem ersten Wahltag, bleiben jedoch gültig. Die Stimmen jener Wahlkreise, wo schon gewählt worden ist, werden aber erst nach Beendigung der gesamten Wahl, das heißt erst nach dem 15. Juni ausgezählt werden. Sollte, wie zu erwarten ist, Rajiv Gandhi in seinem Wahlkreis Amethi gewonnen haben, werden dort Nachwahlen angeordnet.

Unruhen im ganzen Land

Bereits angefangen haben auch die Spekulationen über die Gandhi- Nachfolge in der Kongreß-Partei. Mehrere Namen sind im Gespräch, alle von ihnen altgediente Kongreß- Politiker. Als Favoriten gelten Narayan Dutt Tiwari, früherer Minister für Industrie und Finanzen, P.V. Narsimha Rao, der frühere Außenminister, Vasanp Sathe, der früher der Chefideologe von Indira Gandhi war, Arjon Singh, der frühere Minsterpräsident von Madya Pradesch, und als letzter Sharad Pawar, früher Ministerpräsident von Maharaschtra. Dr. Karan Singh, früherer Maharadscha von Jammu und Kaschmir, der zehn Jahre lang Minister im Kabinett von Indira Gandhi war, warnte gestern jedoch vor zu großen Erwartungen an den Nachfolger: „Niemand hat das Format von Rajiv Gandhi. Wer immer der Nachfolger wird, es wird die zweite Wahl sein.“

Zu Ausschreitungen ist es nach Gandhis Ermordung nicht nur in Dehli gekommen. In Gandhis Heimatstadt Allahabad im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh sind bei Zusammenstößen zwischen Gegnern und Anhängern des ehemaligen Regierungschefs mindestens drei Menschen ums Leben gekommen, wie das indische Fernsehen am Mittwoch berichtete. Unruhen wurden auch aus anderen Landesteilen gemeldet, so aus Madras und Hyderabad. Obwohl Staatspräsident Venkataraman und Premierminister Chandra Shekar die indische Bevölkerung gebeten haben, ruhig zu bleiben, herrscht im ganzen Land Konfusion. In vielen Gebieten verkehren keine Züge, selbst Fernzüge sind zum Teil ausgefallen. In Kalkutta haben Kongreß-Anhänger Straßensperren errichtet. Im Gegensatz zu 1984, als sich nach der Ermordung Indira Gandhis die Gewalttaten gegen die Sikhs gerichtet hatten, sind die Ausschreitungen noch nicht zielgerichtet. Falls sich herausstellen sollte, daß Angehörige einer Minderheit, also Sikhs, Moslems oder Tamilen, für das Attentat auf Rajiv verantwortlich sind, könnte es zu neuen systematischen Verfolgungen kommen.

Fundamentalistischer Premierminister?

Die Behörden haben als Antwort auf die Unruhen die Sicherheitsmaßnahmen im Laufe des Mittwochs weiter verstärkt. In Hyderabad, wo Demonstranten Steine geworfen hatten, wurde eine Ausgangssperre verhängt. Das Waffentragen ist Privaten untersagt. Allein in Dehli sind 2.000 Truppeneinheiten à 75 Mann zusammengezogen worden. Dazu kommen zahlreiche paramilitärische Sicherheitskräfte. Gegen Abend setzte die Polizei in Delhi Tränengas ein, nachdem Polizeijeeps in Flammen aufgegangen waren.

In einer ersten offiziellen Stellungnahme sagte ein Sprecher der Kongreßpartei, der Anschlag auf Gandhi sei „eine Verschwörung, um das Land zu destabilisieren“. Wie die Partei bei den nunmehr verschobenen Wahlen abschließen wird, ist offen. Beobachter sehen zwei Möglichkeiten. Entweder profitiert die Kongreßpartei von einem „Mitleidsbonus“ und einer Welle der Solidarität, oder sie verliert massiv an Stimmen, weil alle, die in erster Linie die Integrationsfigur Gandhi und nicht dessen Partei wählen wollten, nun das Lager wechseln könnten. Trifft das zu, würden möglicherweise die ohnehin schon im Aufwind segelnden fundamentalistischen Hindus neuen Zulauf erhalten. Sie könnten — Dank des Anschlags in Tanil Nadu — gar den nächsten Premier stellen, befürchten Kenner der indischen Verhältnisse.

Weltweite Betroffenheit

Wohl nicht zuletzt angesichts der unsicheren Perspektiven für den indischen Subkontinent hat Gandhis Tod weltweit Betroffenheit ausgelöst. UN-Generalsekretär Perez de Cuellar schrieb in einem Beileidstelegramm, der Verlust des „fähigen Politikers“ werde auf der ganzen Welt zu spüren sein. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow bezeichnete das Attentat als „schreckliches Verbrechen“, und sein amerikanischer Amtskollege George Bush sprach von einer „wahren Tragödie“. Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte, auf Gandhi habe sich gerade in diesen Tagen die Hoffnung großer Teile der indischen Bevölkerung gestützt. Sheila Mysorekar, Neu-Dehli

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