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Krüger: DDR kidnappte Kinder

■ Aktenfunde im Bezirksamt Mitte belegen, daß Kinder von politischen Straftätern unter falschem Namen in Heime eingewiesen oder zwangsadoptiert wurden/ Senat richtete Clearingstelle ein

Berlin. In der ehemaligen DDR wurden Eltern, die wegen politischer Straftaten inhaftiert waren, die Kinder weggenommen und zur Adoption freigegeben. Dies belegen Aktenfunde des Bezirksamtes Mitte im Berolinahaus am Alexanderplatz. Die in Zeitungspapier eingeschlagenen und säuberlich verschnürten Unterlagen geben Auskunft über drei Fälle von Zwangsadoptionen zwischen 1971 und 1974. Fünf weitere Fälle, auch nach früherem DDR-Recht illegal, belegen, daß Kinder von Republikflüchtlingen unter falschem Namen in Heime eingewiesen wurden. Dort wurden sie systematisch ihrer Vergangenheit beraubt.

Bemühungen von Verwandten oder Bekannten der betroffenen Eltern, die Kinder zu sich zu nehmen, scheiterten. Einige dieser Geschichten, stellte gestern der Jugendstadtrat von Berlin-Mitte, Markus Zimmermann (CDU), der Presse vor.

Die DDR verletzte systematisch die Menschenrechte.

Als schlimmstes Beispiel skizzierte Zimmermann die Zwangsadoption eines vierjährigen Jungen, dessen Mutter 1974 wegen angeblicher Militärspionage und versuchter Flucht aus der DDR zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde. Aus dem Gefängnis heraus versuchte die Mutter verzweifelt, für den Jungen eine Pflegestelle bei nahen Verwandten zu erreichen.

Der damalige Sekretär für Volksbildung in Berlin-Mitte lehnte alle von der Mutter genannten Personen ab und verfügte, daß keine Briefe von ihr beantwortet werden sollen; schließlich gab es das Kind zur Adoption frei. Den zuständigen Referenten der Jugendhilfe wurde auf Anweisung der ehemaligen Ministerin für Volksbildung Margot Honecker untersagt, irgend jemandem Auskünfte über den Jungen zu erteilen. Es gelang der Mutter nie, die neuen Eltern ausfindig zu machen. »Die Frau ist daran zerbrochen«, sagte Zimmermann. Der letzte Brief der Mutter kam aus einer Nervenheilanstalt.

Als an Zynismus kaum zu überbieten, wertete der Senator für Jugend und Familie, Thomas Krüger (SPD) die Begründung für die Entrechtung der Eltern. Die Kinder seien den Todesschüssen an der Grenze ausgesetzt gewesen, stand in den Akten. Eine Lesart, gegen die sich Krüger entschieden wendet. »Nun wird auch noch bekannt, daß der Staat sich als Kidnapper betätigt hat. Das muß aufgeklärt werden«, sagte er. In der Alten Jakobstraße 12 in Kreuzberg wurde am Dienstag eine »Clearingstelle für Zwangsadoptionen« eingerichtet. Eltern, denen in der alten DDR das Erziehungsrecht gegen ihren Willen und ohne ihr Einverständnis aus politischen Gründen entzogen wurde, sollen dort rechtlich beraten und bei der Durchsetzung ihrer Interessen unterstützt werden.

Krüger vermutet, daß viele Betroffene nicht wissen, welche rechtlichen Möglichkeiten ihnen nach dem Einigungsvertrag zustehen. »Auch kann es sein, daß sie sich nicht trauen, in den Bezirksämtern nachzufragen, wo ja zum Teil noch dieselben Mitarbeiter wie früher sitzen.« Eltern, deren Kinder zwangsadoptiert wurden, empfiehlt der Senator daher einen Antrag auf Aufhebung des Adoptionsbeschlusses zu stellen. Laut Einigungsvertrag ist dieses noch bis zum 2. Oktober möglich.

Der Senator appellierte an alle Bezirksämter im Ostteil der Stadt, ihre Akten auf solche Fälle hin zu untersuchen. Das Beispiel des Bezirksamtes Mitte zeigt, sagte er, daß noch »längst nicht alle Rudimente der Vergangenheit aus den Kellern zu Tage befördert worden sind«. aku

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