: Erste Rede ohne Kanten
■ In ihrer Regierungserklärung kündigt die neue französische Premierministerin Cresson ein umfassendes Wirtschaftsprogramm an
Paris (afp/ap) — Die neue französische Premierministerin Edith Cresson hatte am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung umfassende Anstrengungen angekündigt, mit denen die Arbeitslosigkeit wirkungsvoll bekämpft und die Stellung Frankreichs als Weltmacht bewahrt werden soll.
Auch wenn die ökonomische Situation sehr schwierig sei, müsse Frankreich pro Jahr 300.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Mit Blick auf den 1993 beginnenden EG-Binnenmarkt formulierte Frau Cresson als Hauptziel ihrer Regierung, zu sichern, daß Frankreich den anderen Ländern „in das Europa des Jahres 1993 und in die Welt des 21. Jahrhunderts“ folgen werde. „Modern, friedlich, geeint und stark“ werde Frankreich in der ersten Reihe der Weltmächte stehen.
Um dieses Ziel zu erreichen, werde sie für einen starken Franc, eine kontrollierte Inflation sowie eine rigorose Überwachung der öffentlichen Ausgaben arbeiten. Im einzelnen beabsichtigt die Premierministerin unter anderem eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen der Regierung und privaten Unternehmen zu erreichen.
Durch die Bildung eines europäischen Elektronik-Konsortiums, so die Pläne der Regierungschefin, soll den westeuropäischen Herstellern ermöglicht werden, sich mit ihren Produkten besser gegen die Konkurrenz aus Japan und den USA behaupten zu können. Schon vor ihrer Ernennung zur Premierministerin galt Edith Cresson als Kritikerin der EG- Außenhandelspolitik, da diese Japan und den USA den ungehinderten Zugriff auf den europäischen Markt ermögliche.
Während ihrer ersten Rede vor dem Parlament demonstrierten Tausende von Polizisten in den Straßen von Paris für bessere Bezahlung. Nichts hätte besser die großen Probleme illustrieren können, die auf die neue Regierungschefin warten. Neue Streiks bei der Eisenbahn und im Gesundheitswesen, Streikaufrufe bei den Pariser Verkehrsbetrieben und im Flugverkehr sind ein Beweis für die wachsende soziale Unzufriedenheit. Ein ideales Klima für eifrige Spekulationen über vorgezogene Parlamentswahlen, die offen von der bürgerlichen Opposition gefordert werden.
Präsident Fran¿ois Mitterrand sah sich bereits zu der Feststellung veranlaßt, er wünsche eine dauerhafte Regierung, und Frau Cresson betonte nachdrücklich, ihr Programm sei auf zwei Jahre bis zum normalen Wahltermin 1993 angelegt.
Fest steht jedenfalls, daß der Chefin der sozialistischen Minderheitsregierung ein schwieriger Drahtseilakt im Parlament bevorsteht. Die bürgerliche Opposition hat keinen Zweifel daran gelassen, daß sie durch Obstruktion versuchen wird, vorgezogene Wahlen herbeizuzwingen.
Wie ihr Vorgänger Michel Rocard hängt auch Frau Cresson vom Wohlwollen des Zentrums und der Kommunisten ab, um ihre Vorlagen in der Nationalversammlung über die Hürden zu bringen. Die Kommunisten üben sich einstweilen noch in Zurückhaltung.
Die Regierungserklärung der streitbaren Sozialistin war angesichts der problematischen Mehrheitsverhältnisse denn auch ohne Ecken und Kanten und schonte sowohl das rechte wie das linke Lager. Es fehlte aber an konkreten Hinweisen darauf, wie die hochgesteckten Ziele ohne zusätzliche Mittel und ohne politische Mehrheit erreicht werden sollen.
Insgesamt herrschte der Eindruck vor, daß Edith Cresson im Grunde nichts anderes als ihr Vorgänger anzubieten habe. „Altes neu aufgekocht“, urteilten einige Kommentatoren in der Presse.
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