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Täter und Opfer in einem-betr.: "Nachruf auf eine Bestie" (Der Fall Jürgen Bartsch), "Bei seinem Erzeuger wäre er erwünscht gewesen", taz vom 17.5.91

betr.: „Nachruf auf eine Bestie“ (Der Fall Jürgen Bartsch), „Bei seinem Erzeuger wäre er erwünscht gewesen“,

taz vom 17.5.91

[...] Ich frage mich, ob wir nicht weiter sind, als in den Jahren 1967 und 1971, der Zeit der beiden Prozesse Bartschs.

Die Tatsache, daß über sexuellen Mißbrauch beziehungsweise sexuellen Ausbeutung oder Gewalt an Mädchen gesprochen wird, sich getraut wird zu sehen, daß es das gibt, ist möglicher geworden. Jedes sechste Mädchen ist in seiner Familie sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Die nächsten Verwandten, meist Väter, Freunde oder Brüder, sind die Täter.

Über die Wirkung sexuellen Mißbrauchs bei Jungen scheint immer noch Unkenntnis zu herrschen. In seinem Artikel erwähnt Torsten Schmidt, daß Bartsch als achtjähriger von seinem 13jährigen Vetter vergewaltigt wurde. Einen Zusammenhang zwischen diesem Erlebnis und der späteren Tat stellt er selbst aktiv nicht her.

Aus dem heutigen Wissenschaftsstand heraus läßt sich vermuten, daß dieser Vetter selbst Opfer eines sexuellen Übergriffes gewesen sein muß, der sein Leid weitergab. So wie Bartsch seine Leiden, unter anderem eine weitere Vergewaltigung mit 14 durch einen Pater, wieder weitergab. Das Wort „sexuelle Perversion“ ist wohl aus dieser Sicht äußerst diffamierend und individualisierend.

Für die Professorin und ehemalige Gutachterin Müller-Luckmann bleibt es ein Geheimnis, warum „x Leute in ähnlicher oder vergleichbarer Form“ erleben, daß Emotionalität zwischen Mutter und Sohn nicht möglich ist, und diese Menschen „vielleicht zu emotional etwas kühleren Typen, aber nicht zu homosexuellen Sadisten“ werden. Sie blendet dabei (und das als Gutachterin) die schreckliche Tatsache einer(?) Vergewaltigung als Kind, von einem männlichen Jugendlichen und später von einem erwachsenen Mann aus. Möglicherweise waren es derer mehr Erlebnisse, wie Lebensberichte von Männern bestätigen, die aber verschüttet wurden, um zu überleben.

Sie blendet aus, was Jungen erleben, die von Männern sexuell ausgebeutet werden, ihre Scham, nicht darüber reden zu können, aus Angst als schwul zu gelten (warum sonst „passiert“ ihne so etwas?), ihre Einsamkeit darüber und ihre ohnmächtige Wut, an deren Ende vielleicht sie selbst als „Täter“ wieder stehen.

Erfreulich, daß sich ein Journalist (und nicht wie üblicher Weise eine Journalistin) mit dem Schicksal eines Männer-Täters und dessen Opfer auseinandersetzt. Was mir fehlt, sind mehr Männerjournalisten, die sich diesem Thema, wenn Männer Gewalt ausüben, engagiert annehmen und sich getrauen, aktiv Männertabus beim Namen zu nennen. Eines davon wäre die Tatsache, daß sexueller Mißbrauch an Jungen weitaus häufiger vorkommt, als angenommen, sowie deren verheerende Folgen. Michael Knorr, Systemische Familientherapie und Männerarbeit, Nackenheim

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