Die Reise um die Welt in 500 Metern

■ Neukölln gilt eigentlich als miefig und langweilig — doch in der Sanderstraße beim Herrmannplatz ist jede Menge los...

Neukölln. Neukölln gilt eigentlich als einer der langweiligsten und miefigsten Bezirke Berlins. In der kleinen Sanderstraße, ganz in der Nähe des Hermannplatzes, scheint aber die ganze Welt zu Hause zu sein. In der »Taverna Odysseus« kann man sich einen gekühlten Retzina mit knackigen Oliven gönnen, genau gegenüber liegt die schwül-schummrige Rotlichtbar »Pigalle«. Vielleicht doch lieber weiter.

Aha, die Neuköllner Wandzeitung: »Morgen Mausi. 1000! Küsse. M.« schlägt es einem in knallroten Lettern entgegen. Weiter geht's an Bleckis Hundeladen und dem Gardinen-Atelier vorbei zu Elses Trödelladen. Bei der alten Dame gibt es fast alles — Kleider, Geschirr, Kühl- und Küchenschränke, modriger Trödelgeruch. Und was es hier nicht gibt, gibt's ein paar Schritte weiter. Der »Salon für die Dame«, ein Absatz- Schnelldienst, die »Türkiyem-Döner-Produktion«, ein Schirmparadies, die Eckkneipe »Mittelpunkt« und das alternative Café »Trilogie« geben der kleinen zwischen Kottbusser Damm und Friedelstraße verlaufenden Sanderstraße ein eigenes (und eigenwilliges) Gesicht. Doch man hat die kleine Straße erst zur Hälfte durchschritten.

Der Schritt verlangsamt sich bei einem Schild mit der Aufschrift: »HÜR-TÜRK. Freiheitlich Türkisch-Deutscher Freundschaftsverein«. Schnell haben einen türkische Jugendliche in das Caféhaus des seit über zwanzig Jahren bestehenden Vereins gelockt. Die Leute von HÜR-TÜRK veranstalten deutsch- türkische Feste und bieten deutsche Sprachkurse an — und spielen Fußball.

Wer auf seinem Spaziergang eine Zeitung, Zigaretten oder Schokolade braucht, wird das Glück haben, Frau Najama Vinzens kennenzulernen. Vor vier Jahren kam sie aus Pakistan nach Berlin, »weil die Frauen in Pakistan kein Recht auf ein selbständiges Leben haben«. Sie machte den Hauptschulabschluß nach und ist seit August letzten Jahres Inhaberin des Zeitungsladens in der Sanderstraße. Erst seien die Leute sehr mißtrauisch gewesen, weil sie Ausländerin ist. Mittlerweile aber seien die Kundinnen und Kunden alle sehr nett zu ihr. Eine Besucherin des Ladens stimmt sogleich eine Lobeshymne an; Frau Vinzens sei die Seele des ganzen Kiez. Nayama Vinzens empfindet es als Selbstverständlichkeit zu helfen, wo sie kann. So gehört zu ihrem Aufgabenbereich schon lange nicht mehr nur der Verkauf; sie und ihr Mann helfen zum Beispiel alten Leuten im Kiez, indem sie ihnen die Butter oder das Brot schon mal in die Wohnung bringen.

Wieder auf der Straße sollte man sich von seiner Nase weiterleiten lassen. Fernöstliche Düfte! Der Saigon- Shop bietet kulinarische Kostbarkeiten an: Bier aus Thailand, Tee aus China, pikante Gewürze, getrocknete Fische, Gemüsesorten, die das europäische Auge noch nie zuvor gesehen hat. Vor einem Jahr eröffnete die junge Vietnamesin, die seit sieben Jahren in Deutschland lebt, diesen asiatischen Lebensmittelladen. Deutsche suchen ihren Laden kaum auf, berichtet sie. Hier gehen fast ausschließlich Chinesen, Philippinos, Japaner und Vietnamesen ein und aus.

Anders dagegen verhält es sich beim nebenanliegenden indischen Restaurant »Indira«. Hier lassen sich fast nur Deutsche indische Spezialitäten munden. An den Wänden hängen farbenprächtige Bilder, auf denen geschmückte Elefanten und erotisch miteinander tanzende Männer und Frauen dargestellt sind, die einen an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht erinnern mögen. Bei einem Glas Tee mit Milch, Honig und Kardamom — das ist ein indisches Gewürz — erklärt der seit 15 Jahren in Berlin lebende Inder Avtar Singh, wie er zum Namen seines kleinen Restaurants kam. Nein, das sei keine Hommage an die 1984 ermordete indische Präsidentin Indira Ghandi. Seine Großmutter habe ebenfalls Indira geheißen.

Hermann Sander, der vor rund 100 Jahren Vorsteher der Stadtverordneten von Neukölln war und nach dem die Straße benannt wurde, wird wohl kaum geahnt haben, daß man auf »seiner« Straße einmal eine kleine Weltreise machen kann. Nadja Encke