Jahresvollversammlung

■ »The Wailers« vor der Berliner Reggae-Gemeinde im Tempodrom

Kein Grund zur Klage: Auch im zehnten Jahr nach dem Eingang von Bob Marley's Seele in die ewigen Rastafarigründe halten »The Wailers« sein Andenken in Ehren. Und die Berliner Gemeinde weiß es zu würdigen. Aber mittlerweile sind die Jungs von der Insel mehr als nur Bobs Testamentsvollstrecker. Denn ihnen wuchs soviel an mythologischer Kraft zu, daß sie ohne den ständigen Fingerzeig auf den Meister auskommen. Nur für die simplen Gemüter trägt der Gitarristensänger noch das Abbild des Drahtlockenziehers auf der Brust und zeigt auch schon mal drauf. Der Dank ist ihm gewiß, pfeifjohlklatsch tönt es aus den ungeordneten Reihen zu ihm hinauf. Reggae night bedeutet Tanz, Schweiß und Freundlichkeit. Die Stimulanzen heißen Dub, Pilsbier und Sto grammov-Tüten.

Das Tempodrom bewies wieder einmal, welch angenehmer Spielort es doch ist. Wem die Luft zu dick, der Baß zu fett und das Licht zu grell wird, der zieht sich in den Biergarten zurück oder fliegt im Park spazieren. Zu hören gibt's auch umsonst und draußen genug. Wer arm ist und trotzdem rein will, muß sich schon was einfallen lassen. Die Gemeindemitglieder ohne Cash versuchen mehr oder weniger geschickt, mit schwarzem Stift den »Bezahlt«- Stempel zu imitieren.

Für die sowieso dem Kunsthandwerk zugeneigten Jünger stellte die auf dem Handrücken anzubringende Inschrift eine kleine Herausforderung dar. Aber die Häscher an der Pforte zum Paradies waren ebenfalls auf Zack, der Schwindel flog auf. Von da an besahen sie sich die Hände der Einlaßbegehrenden genauer, ein schmutziges Geschäft fürwahr.

Im Zelt gingen mittlerweile schon die Feuerzeuge an. No women no cry hieß es, viele Frauen und Männer kämpften laut singend gegen die drohende Stille an. Der kollektiven Improvisation folgte die Wahl des diesjährigen Publikumslieblings. Es erwischte den Percussionisten, der sich in einer dem frühen Santana verpflichteten Nummer ordentlich ausschütteln durfte. Diese Lockerungsübung erhielt wohl auch deshalb den Zuschlag, weil nach Abschluß des einstündigen Einschwingvorgangs alle auf kleine Kitzel lauerten. Temporär bedienten The Wailers nämlich eher das breite Mittelfeld. Wer sich durch kräftiges Saugen an der Pfeife bereits linksaußen befand, hätte es sicher gern etwas verschleppter gehabt. Doch auch unsere Jüngsten, die es gelegentlich etwas schneller mögen, mußten sich bescheiden.

Zum letzteren: mit der Reife kommt die Ruhe und ein zweistündiges Konzert will erst einmal sauber über die in jamaikanische Farben getauchte Bühne gebracht werden. Zum ersteren: mit dem langsamen Entschwinden des Rastafarai-Kults aus dem Reggae schwand auch das für die Religiosität so wichtige Moment der stillen Einkehr. Die Suche nach dem gelobten Land hat anscheinend aufgehört, damit auch die sehnsuchtsvollen Gesänge. Freiheit auf dem Boden der Vorväter, in Afrika: kein Thema mehr. Kein Wort von der Bühne zu dem, was in Äthopien abgeht.

Die Message lautet: Brüder und Schwestern, habt Spaß und erholt euch gut bei uns, jeho! Dem folgten die schwitzenden Körper denn auch gern und willig. Doch ohne Preislieder wird eine Gemeinde zum posterkaufenden Fanclub, zu dessen Vereinsamung die alljährliche Mitgliedervollversammlung gehört. Also auch 1992: The Wailers im Tempodrom. Baumgartner