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Verspätet in die neue Ära der Bundesbahn

In Kassel wurde gestern der Intercity Express feierlich eingeweiht/ Der 250 km/h schnelle Zug kostet stattliche 50 Millionen pro Stück/ Für 300 Millionen erhält Kassel einen Modellbahnhof, die Toiletten werden nachträglich eingebaut  ■ Aus Kassel Hermann Tenhagen

Vorbei die alte Eisenbahnromantik, die eiligen Schritte ins leere Abteil, das Zuziehen der braunen Vorhänge, das Zusammenschieben der Sitze für ungestörte Stunden. Derlei Gemütlichkeiten sind in der neuen Ära der Eisenbahn nicht vorgesehen. In stufenlos verstellbaren Schalensitzen geht die Fahrt mit Tempo 250 in die Eisenbahnzukunft — und die heißt Intercity Express (ICE) und kostet 50 Millionen Mark pro Stück. Einige Unpäßlichkeiten der alten Eisenbahnzeit wollten die Bundesbahner bei der Kasseler Premiere ihres Superzugs allerdings nicht missen: Der ICE aus Bonn kam eine Viertelstunde zu spät zur Sternfahrt nach Kassel.

Mit Prominenz wie Richard von Weizsäcker und Verkehrsminister Krause an Bord hielten die Regierungsstädter am neuen Kasseler Superbahnhof den ganzen Alltagsbetrieb auf. Auch der Beginn der Feierstunde verschob sich um ein Viertelstündchen, an die 3.000 Gäste warteten auf dem Bahnhofsvorplatz geduldig auf die Prominenz. Mit fünf neuen Superzügen waren sie zur Sternfahrt in den 300-Millionen- Modellbahnhof auf der Kasseler Wilhelmshöh gekarrt worden. Jetzt gab die Bundesbahn Entwarnung: Der glitzernde Bahnhof soll jetzt endlich auch die lang umstrittenen Klos bekommen, ein privates Unternehmen wird sie in den Bahnhof einbauen und betreiben.

Mit roten Ralleystreifen und verspiegelten Fenstern kommt er daher, der neue Hochgeschwindigkeitszug ICE. 21 Jahre Planung stecken im Zug und in den speziellen Strecken, die er befahren soll. Für kurze Zeit hielt der Prototyp 1988 sogar den Geschwindigkeitsweltrekord für Schienenfahrzeuge. Innen ist das Musterstück großzügig und genau auf die Klientel der Geschäftsreisenden abgestimmt. Gedeckte Blau- und Rottöne dominieren, die Fenster sind groß, die Kabinen an diesem Sommertag hell. Selbst die Toiletten wirken mit ihren großen Spiegeln und der Farbabstimmung in Rosa und gedecktem Blau gediegen. Die Anlehnung der ICE-Wagen an moderne Flugzeugabteile ist in Sitzgestaltung und Minitisch für jeden Fahrgast unverkennbar. Angetreten unter dem Slogan, „doppelt so schnell, wie das Auto und halb so schnell, wie das Flugzeug“, versucht die Bahn die modernen Großraumflugzeuge auch in der Bequemlichkeit zu schlagen. Auch der Imbiß und die Getränke erinnerten eher an feinen Kellnerservice als an die Versorgungskisten in den Fliegern. Glas statt Plastikbechern.

Wäre die Ehrenbesetzung der fünf Züge repräsentativ für den Alltagsverkehr in der Zukunft, hätte die Bundesbahn mit dem ICE einen großen Coup gelandet. Im neuen Zug versammelte sich neben führenden Eisenbahnern vor allem das in Grau und Blau gekleidete Managerpublikum. Frauen, Kinder und Rucksacktouristen, das typische Bahnpublikum in den Eil- und D-Zügen, sah man hingegen kaum oder gar nicht. Das wird der erhöhte Preis für den ICE vermutlich aber auch in Zukunft ausschließen. Sollte der Preis die Fahrgäste nicht genug aussieben, gibt es noch andere Hindernisse. Die Schließfächer in den 2.-Klasse-Abteilen zeigen die Vorgaben. Gerade groß genug für den Aktenkoffer, Rucksack oder Reisekoffer passen dort nicht hinein.

Die Eisenbahner im Zug, auch die pensionierten, freuten sich. Hans Hussong, seit 1976 pensionierter Vater des IC-Taktnetzes, ist begeistert von der Technik. „Der ist sehr ruhig, gerade bei hohen Geschwindigkeiten“, schwärmt er. Ganz wohl ist dem ehemaligen Chef der Reisezugplanung bei dem programmatischen Luxus aber nicht. „Die Züge haben so 50, statt der geplanten 30 Millionen gekostet. Das wird auch auf die Preise durchschlagen.“ Die aktiven Eisenbahner bemühen sich dagegen, die Wirtschaftlichkeit ihres neuen Bahnsystems zu berechnen. In Hamburg hat die Bahn für 300 Millionen eine neue Wartungshalle allein für die ICEs gebaut. Mit einer Stunde Boxenstopp solle der Hochgeschwindigkeitszug dort gecheckt und wieder einsatzbereit gemacht werden, sagt Peter Lankes von der Projektleitung ICE. Er rechnet vor, daß die Bahn durch die kurzen Wartungszeiten allein den Kauf zweier ICEs einspare. Das seien schon rund 100 Millionen Anschaffungskosten. In der Hamburger Anlage kann sich der pfeilschnelle Flitzer der Ganzkörperpflege unterziehen.

Beim großen Eröffnungsbahnhof in Kassel glänzte Bundespräsident Richard von Weizsäcker fast noch mehr wie die brandneuen ICEs. Mit einem Goethe-Zitat beschrieb er die wünschenswerte Bahnzukunft. Seinem getreuen Eckermann hatte der alte Goethe erklärt: „Um die Einheit Deutschlands ist mir nicht bange. Unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige dazu tun.“

Mit einem symbolischen Knopfdruck gab der Bundespräsident dann grünes Licht für die Hochgeschwindigkeitszukunft der Bahn. Die Zukunft der Eisenbahn kann allerdings nicht allein aus Hochgeschwindigkeitszügen bestehen. Für die Renaissance der Bundesbahn brauche man auch den Regionalverkehr, so Weizsäcker. Dem hatte keiner der redenden Männer etwas hinzuzufügen.

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