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Nur ein Relikt aus der Vergangenheit?

■ Die Reichsbahn muß ums Überleben kämpfen/ Reservestrecken — im Westen längst abgerissen — gibt's im Osten noch

Berlin (taz) — Im Hauptbahnhof von Halle wird gerade die neue elektronische Anzeigentafel montiert. Während der verspätete D-Zug aus Berlin einläuft, verläßt der Anschlußzug nach Hessen am anderen Ende den Bahnhof. Die minutengenaue Abfahrt jedes Zuges sei den Eisenbahnern eingeimpft, erklärt Olaf Drescher von der Berliner Hauptverwaltung der Reichsbahn das Geschehen. Schließlich habe früher jede Minute ein Zug den Hallenser Bahnhof verlassen — fürs Warten war kein Raum. Modernität versus traditionelles Denken, das ökologisch modernste Verkehrsmittel und zerbröselnde Betonschwellen — diese Gegensätze kennzeichnen die Lage der Reichsbahn im Frühsommer 1991.

Gegensätzlich auch die Politikziele: In der einen Woche verkündet der Präsident Reichsbahndirektion Berlin, Werner Remmert, daß das dichte Reichsbahnnetz nicht mehr finanzierbar sei. Nur in 50 Prozent des Schienennetzes lohnten sich Investitionen. In der nächsten Woche sagt Remmerts Hallenser Kollege, Gerhard Bernstein, daß Stillegungen nicht die richtige Interpretation der Reichsbahnstrategie seien.

Das Reichsbahnnetz und ihr Fahrzeugpark sind unstrittig dringend überholungsbedürftig. Von 100 Milliarden Mark Kosten ist die Rede. Trotzdem bringt die marode Reichsbahn für einen ökologischen Güterverkehr der Zukunft gute Voraussetzungen mit. In der ehemaligen DDR sind alle großen Industriebetriebe und alle existierenden Gewerbegebiete hervorragend von der Bahn erschlossen. Ohne großes Genehmigungshickhack stehen das große und verzweigte Netz, vor allem die Reservestrecken zur Verfügung, deren Abriß heute in der Alt-Bundesrepublik wortreich beklagt wird.

Die Reichsbahn vollbrachte mit den alten Zügen auf den verrottenden und zerbröselnden Schwellen in den letzten Jahren der DDR erstaunliche Leistungen. Auf den 14.000 Streckenkilometern transportierte sie Unmengen an Braunkohle und Baustoffen. 250.000 Beschäftigte bewegten 336 Millionen Tonnen Güter — vergleichweise langsam — über insgesamt fast 60 Milliarden Kilometer. Mehr Tempo verhinderten vor allem die 1.600 Langsamfahrstellen auf fast 2.500 Kilometern Schienenweg. Trotzdem liefen 70 Prozent der gesamten DDR-Gütertransporte auf der Bahn.

Bundesverkehrsminister Günther Krause, selbst ehemaliger DDR- Bürger, verkündet heute in Bonn immer wieder den Vorrang der Schiene. Neun seiner siebzehn Vorzeigeprojekte seien Schienenprojekte, wird er nicht müde zu beteuern. Doch diese Vorzeigeprojekte erhalten nicht die breite Eisenbahninfrastruktur, die die Basis für ein wirksames ökologisches Massentransportmittel Bahn sind. Sie sichern nur die Zukunft mehrerer Schnellbahntrassen, die nach dem Willen Krauses, des Bundesverkehrsministers, privat und profitabel betrieben werden sollen.

Politik und alte Gewohnheiten: Während auf den Straßen die Brummis vom Westen nach Osten rollen, ist die Reichsbahn nicht in der Lage, schnell zusätzliche Bahnverbindungen für Pendler und Gütertransporte von Ost nach West zu öffnen. Erst eine der alten Vorkriegsstrecken über die Grenze ist wirklich wiedereröffnet worden.

An der innerdeutschen Grenze wird der Kampf um die KundInnen verloren, die man mit milliardenschweren Hochgeschwindigkeitstrassen dann zurückgewinnen will. Auch die Reichsbahnhauptverwaltung in Berlin betont, im Ost-Westverkehr liege die Zukunft, hier hielten sich die Verlust am Transportanteil und Fahrgästen noch in Grenzen. Insgesamt hat die Reichsbahn 30 Prozent der Fahrgäste in den vergangenen Monaten ans Auto verloren; im Güterverkehr ist es bislang nach eigenen Angaben die Hälfte. ten

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