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Asyl für kurdischen Volkslied-Sänger

■ Stader Verwaltungsgericht erkennt erstmals „Gruppenverfolgung“ an

Ali A. ist Sänger. Seinen Lebensunterhalt hat er mit Auftritten auf Hochzeits- und anderen Familienfeiern bestritten. Von türkischem Militär wurde er dafür mehrmals verhaftet, Finger- und Fußnägel wurden ihm unter der Folter herausgerissen. Der Grund: Ali A. singt in kurdischer Sprache. Es sind einfache Volkslieder, die er zum Besten gegeben hat. Für das türkische Militär zwar Grund genug, den Sänger in die Flucht nach Deutschland zu treiben, für das Asyl-Bundesamt in Zirndorf jedoch kein Grund, dem Verfolgten Recht auf Asyl zu geben. „Keine individuelle Verfolgung aus politischen Gründen“, sahen die deutschen Beamten in der Folter des Volkslied- Sängers und wollten ihn gerne wieder in die Türkei zurückschicken.

Dazu wäre es auch gekommen, wenn Ali A. nicht das Glück gehabt hätte, wegen seines Wohnsitzes in Schwanewede unter die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts in Stade zu fallen. Denn das erkennt seit April 1991 als einziges Verwaltungsgericht der Bundesrepublik für „nicht assimilierte Kurden aus den angestammten kurdischen Siedlungsgebieten im Osten der Türkei“ eine „asylrechtlich relevante Gruppenverfolgung“ an. Seitdem die 4. Kammer unter Richter Dr. Pfitzner in einem Urteil vom 15. April seine abweichende Meinung zur Kurdenverfolgung in einer 30seitigen Begründung ausführlich dargelegt hat, wurde in Stade bereits über 20 kurdischen Familien aus der Türkei das Asylrecht zuerkannt. Am Freitag vergangener Woche waren es allein sechs Fälle, einer von ihnen war der Sänger Ali A.

„... die Nähe zur Schlinge vermeiden“

In Sicherheit ist er mit dieser Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedoch noch nicht. Der Bundesinnenminister ist bisher gegen alle Stader Asyl-Urteile in die Berufung gegangen. Über die muß das OVG in Lüneburg entschieden — für Ali A. und seine kurdischen Landsleute keine gute Perspektive, denn in Lüneburg wurde bislang noch nie eine „Gruppenverfolgung“ bei türkischen Kurden anerkannt.

Allerdings beruft sich das Stader Gericht in seiner neuen Rechtsprechung auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, an dem auch die Lüneburger Richter kaum vorbeikommen werden. Am 23.1.91 hatten die Karlsruher Verfassungsrichter in einer Entscheidung über das Asylrecht von Yeziden, einer christlichen Bevölkerungsgruppe in der Türkei, den Begriff der „Gruppenverfolgung“ deutlich zugunsten der Asylbewerber verschoben. Danach ist es für die Anerkennung einer Asylberechtigung bereits „von Belang, ob die Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind“. Damit sind die Verfassungsrichter deutlich von einer engen Interpretation des im Grundgesetz festgelegten Rechtes auf Asyl für „politisch Verfolgte“ abgerückt.

An der bisherigen Rechtsprechung kritisieren die Stader Richter mit dem Verfassungsgerichtsurteil im Rücken, daß sie von Asylbewerbern „ein Ausharren in Gefahrensituationen auch dann noch“ verlangt habe, „wenn das Bestreben, zum Schutz von Leib, Leben und Freiheit im Ausland um Asyl nachzusuchen, aus einer begründeten Verfolgungsfurcht entwuchs“. Dem halten die Stader Verwaltungsrichter den gesunden Menschenverstand entgegen: „Der menschliche Überlebens- und Selbstbehauptungswille drängt dazu, nicht nur den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, sondern bereits die Nähe der Schlinge zu meiden“, heißt es in ihrer Urteilsbegründung.

Neben diesen eher allgemeinen Ausführungen erheben die Stader Verwaltungsrichter schwere Vorwürfe gegen die türkische Regierung, die mit „Diskriminierungen, Repressalien und Verfolgungshandlungen“ die kurdischen Türken „Lebensverhältnissen aussetzt, unter denen ihr Verbleiben in der Heimat nicht mehr als ein menschenwürdiges Dasein bezeichnet werden kann“. In der türkischen Presse hat diese Stellungnahme bereits für Furore gesorgt.

Kritik hat das Stader Gericht aber auch an den Lageeinschätzungen des Auswärtigen Amtes, auf die sich die Verwaltungsgerichte in ihren Asylurteilen normalerweise stützen. Man habe „die Überzeugung gewonnen, daß die tatsächliche Gefährdung der kurdischen Bevölkerung vom Auswärtigen Amt zu zurückhaltend dargestellt wird“, schreiben die Richter und stützen sich dabei auf ausführlich zitierte Berichte von Zeitungen und Menschenrechtsorganisationen.

Zudem stehe es dem Auswärtigen Amt gar nicht an, selber über das Vorliegen einer „Gruppenverfolgung“ zu entscheiden. „Es ist klarzustellen, daß die Subsummtion eines Sachverhalts unter den Rechtsbegriff der Gruppenverfolgung nicht dem Auswärtigen Amt, sondern den Gerichten obliegt“, beharren die Stader Richter auf ihrer Autonomie.

Nach soviel kritischer Vorarbeit des Stader Verwaltungsgerichts dauerte es am Freitag nur noch knappe 20 Minuten, bis der kurdische Sängers Ali A. sich über seine gerichtlich erteilte Asylberechtigung freuen konnte. Das Bundesinnenministerium hatte gar nicht erst einen Vertreter ins Stader Gericht entsandt. Es setzt darauf, daß die nächste Instanz in Lüneburg weniger aufmüpfig urteilt als die Stader Richter. Dirk Asendorpf

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