: Es stinkt zum Himmel
■ Alexej Schipenkos »La Fünf in der Luft« in der Volksbühne
»Hätte ich eine Million, kaufte ich mir eine Insel im Mittelmeer und schriebe nichts mehr.« Alexej Schipenko, dreißig Jahre alt, Schauspieler, Rockmusiker und Autor von mindestens acht Theaterstücken, denkt nicht daran, für die künstlerisch interessierte Öffentlichkeit den armen Poeten zu machen. Er kann sich das leisten, weil es im Augenblick vergleichsweise wenig kostet, in Rußland Künstler zu sein. Daß selbstlose Entsagung, unbeirrbares Sendungsbewußtsein und heroischer Opfermut nicht unbedingt vonnöten sind, um sich auf diese Existenz einzulassen, läuft jeder Tradition zuwider. Schipenko hat also Glück — daß er auch darauf verzichtet, sich zum Opfer, zum Leidenden um der Kunst willen zu stilisieren, ist allerdings bemerkenswert und fast schon eine Provokation. Zumal eine solche Selbststilisierung durchaus nahegelegen hätte. Denn Schipenkos 1988 entstandenes Stück ‘La Fünf‚ in der Luft, das seit letzten Freitag im »Dritten Stock« der Volksbühne gespielt wird, ist — wenn man den Angaben der Dramaturgie glauben darf — in der Sowjetunion bis jetzt noch nicht aufgeführt worden.
Die La Fünf ist ein sowjetisches Kampfflugzeug. Serjoscha (Wilfried Ortmann), Säufer, Muttersöhnchen und Veteran des Großen Vaterländischen Krieges, erinnert sich oft und gern an die Zeit, als er sie geflogen hat, »um den Fritzen Feuer unterm Arsch zu machen«. Sein Vater war Lenin, seine Mutter die Sowjetmacht. Er hat sie über alles geliebt, und er hat sie erfolgreich verteidigt. Es war eine große Zeit.
Nun liegt seine Mutter (Margot Ebert), »so alt wie das Jahrhundert«, in einem schäbigen Zimmer in einer sowjetischen Kommunalwohnung, zwischen unzähligen Pfandflaschen und unzähligen Schaben auf einem Bett, das ein Sockel aus rotem Granit ist. Serjoscha, das fünfundsechzigjährige Muttersöhnchen, wohnt mit ihr in einem Zimmer, eingesperrt in sein Gitterbettchen, verurteilt zu lebenslänglicher Zwangsgemeinschaft. Die La Fünf ist endgültig gelandet, auf der Zimmerdecke, das Cockpit hängt herunter, die Deckenbeleuchtung ist daran befestigt. In der Hölle ist der Boden nicht unter den Füßen, sondern über dem Kopf.
Serjoscha fliegt noch ab und zu, aber nicht in der La Fünf über dem Kursker Bogen, sondern in hohem Bogen aus der Kneipe am Kursker Bahnhof, der Weihestätte des Moskauer Alkoholismus. Dann kommt er besoffen nach Hause und scheißt den Korridor voll, torkelt ins Zimmer und brüllt seine Mutter an, die das Bett vollgeschissen hat. Es stinkt zum Himmel. Serjoscha kann seine Mutter nicht mehr ertragen, aber er fürchtet sich vor nichts mehr als vor ihrem Tod. Wenn sie nicht da wäre, müßte er sich selbst ertragen. Solange sie ihn von ihrem Bett aus belauert, das zu verlassen sie sich weigert, solange sie kreischt und flucht und bettelt und wimmert, um ihn dazu zu bringen, sie zu bedienen, ist sie es, die an allem schuld ist. Zwischen Serjoscha und seiner Mutter besteht ein stillschweigendes Übereinkommen: Beide brauchen einander, um sich nicht bewegen zu müssen. Sie bringen sich allmählich um, aber jeder erschrickt, wenn der andere dem Tod näher zu sein scheint. Und die Mitbewohner der Zwangswohngemeinschaft können es kaum abwarten, bis beide endlich krepiert sind und etwas mehr Platz ist in der ungern geteilten Wohnung.
Nun sind Schmutz und Fäkalien, Flüche und Mutterkomplexe wahrhaftig keine theatralischen Neuerungen mehr; und wenn Schipenko einfach nur eine längst vollzogene Revolution für die sowjetische Bühne hätte adaptieren wollen, wäre das Stück belanglos. Aber es ist ganz anders: Die Stärke des Stücks liegt darin, daß sich Schipenko gerade nicht darum bemüht, originell zu sein. Ohne groß zu suchen, greift er zu den naheliegendsten Metaphern für die russische Agonie, und das sind, neben der Mythologie des sozialistischen Realismus, nun einmal die Scheiße und die Symbiose. Wie von selbst fügen sich alle Elemente zu einem Bild zusammen, das eine Situation zeigt, die man nicht erklären kann. Wenn das Stück in der Sowjetunion als unerträglich empfunden wird, liegt das nicht daran, daß es schockieren will, sondern daran, daß es ins Schwarze trifft. Es analysiert das sowjetische Trauma, ohne irgendwo Raum zu lassen für die gerechte Anklage, für die Perspektive des unschuldigen Opfers: »Haben Sie die letzten Stücke Schipenkos gelesen, werden Sie krank. Sie möchten am liebsten die Arbeit, die Familie, die Freunde und die Heimat im Stich lassen. 'La Fünf in der Luft' werden Sie vor Ihren Kindern verstecken«, schrieb ein sowjetischer Kritiker.
In Berlin, in der Volksbühnen-Inszenierung der Jugoslawin Mira Erzeg, wirkt die brutale Komik des Stücks nicht bedrohlich, eher befreiend. Die Regisseurin und die beiden HauptdarstellerInnen Wilfried Ortmann und Margot Ebert gehen mit der Sprache des Stücks wie selbstverständlich und fast leicht um: Es hat ihnen etwas zu sagen, und es gibt ihnen selbst die Möglichkeit, etwas zu sagen. 'La Fünf in der Luft' ist vielleicht ein Zeitstück im besten Sinn. Aufgeführt von Leuten, die es nichts angeht und die es nichts angehen, wäre es epigonal. In der Volksbühne ist es das richtige Stück zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Detlef Kuhlbrodt
‘La Fünf‚ in der Luft von Alexej Schipenko in der Volksbühne (3. Stock). Übersetzung: Barbara Lehmann, Regie: Mira Erzeg, Bühne: Martin Fischer, Musik: Sergej Kolmanowski. Mit Margot Ebert, Wilfried Ortmann u.a.
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