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Wissen ist Ohnmacht

Aufsteiger Wattenscheid besiegte dank der Ergebnisübertragung vom zeitgleichen Kaiserslautern-Spiel die irritierten Bayern 2:3  ■ Aus Wattenscheid Ernst Thoman

Der Winzling aus der Provinz, in den Klischees der meisten Sportbeobachter vor der Saison eindeutig und unwidersprochen als designierter Absteiger identifiziert, hat mitgeholfen, zwei Spieltage vor Torschluß den neuen Meister ausfindig zu machen. Die SG Wattenscheid haute den FC Bayern München vom Hocker — ein Jahrhundertspiel im Jahr eins für die wagemutigen Aufsteiger.

So drückte „Hans im Glück“ nach dem 3:2-Sieg den Wattenscheider Mäzen innig an die Brust: Trainer Hannes Bongartz zum tränenseligen Kleiderfabrikant Klaus Steilmann, im Alltag eher ein Emotionsasket: „Boß, laß uns in zwei Wochen ganz mit Fußball aufhören, so schön wie heute wird er nie wieder.“ Münchens Jupp Heynckes, gleichsam, wenn auch aus anderen Gründen überwältigt, komplimentierte verdächtig souverän: „Lautern hat den Titel verdient, denn sie haben eine großartige Saison mit der konstantesten Mannschaft gespielt.“ (siehe PRESS- SCHLAG)

Für den Sieger und dessen großartige letzten dreißig Minuten fand der Bayern-Coach kaum Worte. Dafür sprach Manager Uli Hoeneß Passendes: „Die Anzeigentafel hat mitgeholfen, das Spiel zu entscheiden.“ Eine zutreffende Analyse und Anlaß für die Trainerakademie, den Lehrplan im Fach „Mentales Training“ zu überdenken. Die Leuchtschrift nämlich machte den Bayern die Birne platt: Die Zwischenstände aus Bremen halfen mit, daß im Bochumer Ruhrstadion über den Titel entschieden wurde.

Eine Stunde lang düpierte und deklassierte der noch amtierende Meister den Neuling. Stefan Effenberg, jüngster Berti-Vogts-Bubi, gelang die hochverdiente Führung, während Wohlfarth und anderen die Höherquotierung trefflich mißlang. Schließlich traf Frank Hartmann nach einer geschlagenen Stunde, egoistisch den freistehend rufenden, ungeduldig tanzenden Souleyman „Samy“ Sane ignorierend, kaltschnäuzig und frech. Bewacher Hansi Pflügler verlor einiges vom Resthaar bei dieser ersten Wattenscheider Chance: 1:1.

Und nur eine Minute später jubelten gut zwei Drittel im fast ausverkauften Stadion. Zum ersten Mal griff die Anzeigentafel ernsthaft ins Spiel ein als sie verkündete, daß Kaiserslautern gegen Werder 2:1 führte. Rund 15.000 Bayernfans stockte der Atem.

Die Luft ging ihnen ganz aus, als sie sieben Minuten später mit 1:2 hinten lagen. Ein Kopfball von Libero Neuhaus legte die mentale Leuchtschriftanfälligkeit der Bayern bloß. Eine höchst seltene Luftschwäche, bei der die Münchner Augen („trotz ohne Augenthaler“) offenbar hoffnungsvoll auf neue Bremer Resultate hofften. 21:1 also für Lautern und Wattenscheid — jetzt schien alles aus zu sein.

Nicht alles, noch nicht. Denn alle Sieger befanden unisono nach dem Duschen, daß ihnen nach Wohlfarths Ausgleich zwei Minuten vor dem Abpfiff das Herz in die Socken gerutscht sei. Siegtorschütze Thorsten Fink (90., nach selbstlosem Sane- Paß): „Wir dachten alle an das Bayerntrauma der letzten Sekunden. So haben sie in Hamburg und Dortmund noch gewonnen.“

Hätten sie auch diesmal, und da muß auch ein kommender Vizemeister gelobt werden. In einer furiosen letzten Viertelstunde hätten die hingebungsvoll fightenden Bayern drei Tore machen müssen, Wattenscheid deren zwei, bis dann der dritte Konter traf. Ein Blick zur Anzeige war da nicht mehr nötig, die Bayernköpfe geknickt. Und während die Provinzwinzlinge in der Menge badeten, sprach ausgerechnet Stefan Effenberg einen sauberen Satz: „Wir waren heute zu dumm, Meister zu werden“, befand er selbstkritisch. Noch in der Winterpause hatte er die Konkurrenz für zu dämlich befunden, Meister zu werden.

Bayern München: Aumann — Reuter — Grahammer, Kohler — Schwabl, Effenberg, Thon, Bender, Pflügler (68. Strunz) — Wohlfarth, Laudrup (68. Ziege).

Zuschauer: 35.000.

Tore: 0:1 Effenberg (37.), 1:1 Hartmann (61.), 2:1 Neuhaus (68.), 2:2 Wohlfarth (87.), 3:2 Fink (89.).

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