: Ratschlag gegen weitere Eskalation
■ In Gotha trafen sich erstmals Flüchtlingshilfegruppen aus Thüringen und Hessen zum großen Ratschlag
Jagdszene in Thüringen: Der nepalesische Flüchtling, der von der Zentralen Aufnahmestelle des Landes in Thambach-Dietharz nach Arnstadt verbracht worden war, wollte in der Stadt nur telefonieren, als eine Horde Skinheads auf die Zelle zugestürmt kam. Der junge Mann vom Dach der Welt ließ den Hörer fallen und rannte um sein Leben — die Kahlgeschorenen hinterher. Als die Schläger dann über den Zaun klettern wollten, der die zum Heim für Asylbewerber umfunktionierte ehemalige Jugendherberge und ihre neuen Gäste vor Übergriffen der deutschen Gastgeber schützen soll, kam die Polizei aus der gegenüberliegenden Wache: „Dreckiges Ausländerschwein!“ brüllten die Skins dem Nepalesen noch nach. Und das, so eine Mitarbeiterin einer freien Flüchtlingsinitiative in Arnstadt, seien oft die ersten beiden deutschen Worte, die AsylbewerberInnen aufschnappten.
Die wenigen Menschen in Arnstadt, die sich um die Flüchtlinge kümmern, haben einen Fahrdienst organisiert. Denn nach Besuchen bei den neuen deutschen Freunden in der Stadt könne man die AsylbewerberInnen nicht alleine zurück in die Herberge an der Peripherie von Arnstadt gehen lassen — „und schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit“. In der Unterkunft selbst gibt es keine Möglichkeit zum Telefonieren, keinen Angestellten, der englisch spricht, keine Rechtsberatung über das weitere Asylverfahren und keinerlei psycho-soziale Betreuung.
Daß die Lage in Thüringen für AsylbewerberInnen im besonderen und für AusländerInnen im allgemeinen „mehr als nur besorgniserregend“ ist, konstatierten am Samstag in Gotha alle Teilnehmer des ersten Kooperationstreffens hessischer und thüringischer Flüchtlingsinitiativen. Zum „großen Ratschlag“ in die Versöhnungskirche im Plattenbauviertel „Juri Gagarin“ geladen hatten die Frankfurter Bürgerinitiative „SOS- Rassismus“ und der Verein zur Integration ausländischer Mitbürger „L'amitié“ in Gotha. „Es ist an der Zeit“, so José del Posa von SOS-Rassismus, „daß verstärkt überlegt wird, was Initiativen, Organisationen und engagierte Menschen tun können, um eine weitere Eskalation der Situation von Migranten und Flüchtlingen zu verhindern.“
In zwei Arbeitsgruppen diskutierten die rund 60 TeilnehmerInnen des Treffens zusammen mit betroffenen Migranten und Flüchtlingen aus Mosambique, Nepal und dem Iran den Inhalt eines „Gothaer Appells“, der dann am Abend verabschiedet wurde. Die thüringische Landesregierung wird darin aufgefordert, umgehend für die „menschenwürdige und sichere Unterbringung“ von Flüchtlingen zu sorgen und in den Lagern und Heimen psycho-soziale Betreuungdienste und juristische Beratungsstellen einzurichten. Darüber hinaus müsse die Landesregierung die medizinische Versorgung der AsylbewerberInnen sicherstellen, Sprachkurse einrichten und Dolmetscher einstellen.
Keine Kapitulation vor Ausländerfeinden
Die VertreterInnen von L'amitié prognostizieren für den Herbst eine neue Eskalation der Gewalt gegen Migranten und Flüchtlinge. Denn dann würden auch all die Deutschen arbeitslos werden, die sich zur Zeit noch mit „Kurzarbeit null“ über Wasser hielten. Mit einer Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit und mit klaren Handlungsanweisungen an die Polizei zur Ergreifung „effektiver Maßnahmen“ gegen Skinheads und andere rechtsradikale Gruppen könne landesweit möglicherweise ein Stimmungsumschwung eingeleitet werden, meinte Ozan Ceyhun, Mitarbeiter der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Grüne.
Ceyhun war es auch, der in Gotha das vor allem von den Initiativen aus Hessen geforderte Moratorium bei der Verteilung von Flüchtlingen auf die neuen Bundesländer abblockte. Zwar sei es richtig, daß die Zahl der sogenannten Rückflüchtlinge vor allem nach Hessen aufgrund der Verhältnisse im Osten kontinuierlich ansteige. Aber im Westen, „vor allem auf dem platten Land“, würden die AsylbewerberInnen auch nicht mit offenen Armen empfangen. Ein Moratorium jetzt komme einer Kapitulation vor den Ausländerfeinden im Osten gleich. Die Initiativen verständigten sich schließlich darauf, die Entwicklung in den neuen Bundesländern zu beobachten, um dann im September die Moratoriumsfrage erneut zu diskutieren.
Der Verein L'amitié wird in den nächsten Wochen ein Rechtshilfekomitee für AsylbewerberInnen gründen, Sprachkurse organisieren und einen Hilfsfonds für Flüchtlinge einrichten. Das Geld dafür und das entsprechende vor allem juristische Know-how soll aus Hessen „importiert“ werden. Die Westler wollen darüber hinaus in der „Woche des ausländischen Mitbürgers“ Anfang September mit einer „multikulturellen Karawane“ durch Thüringen ziehen — „einmal nicht gegen die Ausländerfeindlichkeit“, so Ceyhun, „sondern für die multikulturelle Gesellschaft und ihre Vorteile für alle“. K.-P. Klingelschmitt, Gotha
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