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Zerbrochene Spruchstücke

„stücke 91“ — die Mülheimer Theatertage  ■ Ein Bericht von Gerhard Preußer

So sieht die Zukunft aus im deutschen Gegenwartstheater. Finster allemal, aber die Düsternis hat verschiedene Schattierungen: verlorene Hoffnung, nostalgische Trauer oder zynische Parodie des Optismismus. Die drei wichtigsten Stücke des diesjährigen Mülheimer Stückewettbewerbs unterscheiden sich deutlich: Georg Seidels Villa Jugend ist ein bitteres Reqiuem auf den Untergang der DDR, Peter Handkes Spiel vom Fragen ein orakelhaftes Bühnenweihfestspiel und Martin Schwabs Übergewichtig, unwichtig, unform eine irrwitzige Gruseloperette im Milieu deklassierter Kleinbürger. Gemeinsam aber ist ihnen die Vorliebe für prägnante Sprüche. Zum Beispiel zum Thema Ganzheit:

„Ganz, wie du sagst, fühle ich mich nie angesichts einer Frau, aber immer wieder angesichts eines Baumes. Vor der Frau: kleine Auge. Vor dem Baum: große Augen.“ (Peter Handke)

„Wir müssen unseren Unterleib ausziehen und herzeigen, weil es in der Menschenmitte brennt, tagein und tagaus. ... Machen sie sich frei, sagt das Leben zu dem Menschen. Ganz, fragt der Mensch. Ganz, sagt das Leben.“ (Werner Schwab)

Georg Seidels Stück hat zwar noch eine richtige Handlung und Charaktere, die sich entwickeln, dennoch hat sich auch bei ihm die Sprache verselbständigt. Sprechstücke sind sie alle drei. Ihre Abläufe folgen eher musikalischen Gesetzen als einer Handlungslogik. Lento sotto voce zu spielen das eine, andante misterioso das andere, presto furioso e giocoso das dritte. Ernst aber ist der gemeinsame Grundduktus, auch noch im parodistischen Humor:

„Wir waren immer sehr ernst. Und das war gut so. Oder nicht?“ (Georg Seidel)

„Nur dem Ernst des Fragens bin ich gewachsen, nicht aber jenem der Frauen.“ (Peter Handke)

„Tatü, tatü, die Feuerwehr/ Das Leben brennt heut wieder sehr.“ (Wener Schwab)

Gemeinsam ist den drei Stücken auch ihre Vorliebe für die großen Themen, das Leben, der Tod und der Mensch.

„Der Mensch ist noch nicht, was er sein soll oder vorgibt zu sein.“

„Meine, des Flüchtlings Zuneigung gilt den ziellosen Menschen, den Übergangsreisenden — der neuen Menschheit!“

„Stellen Sie sich einmal einen Menschen vor. Nur einmal machen sie sich einen Menschen in den Kopf, einen echten Menschen, ... einen echten Menschen, wie er leibt und lebt. (Übergibt sich beinahe)“

Die Stimmen in diesem imaginären anthropologischen Diskurs sind leicht zu identifizieren: Seidel, der verantwortungsbewußte Wortbastler, Handke, der selbstherrliche Schönheitsprophet, Schwab, das besoffen nuschelnde Sprachgenie. Der 91er Stücke-Jahrgang war kein besonders guter Jahrgang, er scheint fast zuviel Sonne abbekommen zu haben: schwer und vollmundig sind die Produkte. Der ideelle Gesamtautor des deutschsprachigen Theaters hat 1990/91 ein Stück über den „ganzen Ernst“ der „Zukunft“ der „Menschen“ geschrieben.

Die drei genannten Stücke waren die Favoriten des Publikums im diesjährigen Wettbewerb. Die drei anderen von der Auswahlkommission nach Mülheim geholten Stücke, Botho Strauß' Schlußchor, Tankred Dorsts Karlos und Michael Zochows Traiskirchen, fanden weniger Zustimmung. Die Jury entschied sich mit deutlicher Mehrheit und mit Unterstützung der Publikumsstimme (6:3) für Georg Seidel. Die Liste der Treffer und Fehlentscheidungen der Jury aus den 15 Jahren, die der Wettbewerb existiert, ist jetzt ausführlich dokumentiert in einem Jubiläumsbuch. Daran gemessen ist Villa Jugend keine schlechte Wahl.

Georg Seidel, der im Sommer letzten Jahres 44jährig gestorben ist, war schon mit zwei vielbeachteten Stücken in Mülheim vertreten (Jochen Schanotta, 1987, und Carmen Kittel, 1990). Villa Jugend ist nicht nur das letzte Stück dieses Autors, es wurde erst postum aus dem Nachlaß im Schreibcomputer vervollständigt, es ist wahrscheinlich auch das letzte authentische DDR-Stück. Probenbeginn für die Uraufführung im Berliner Ensemble war der 30.September 1990, unmittelbar vor der Grablegung der DDR, Premierentermin war der 19.Januar 1991, kurz nach der Leichenfeier der ersten gemeinsamen Bundestagswahl. Entsprechend quillt das Stück über von Metaphern des Absterbens: die Hauptfigur, der Lehrer Neitzel, hat einen Selbstmordversuch hinter sich, am Ende stirbt seine Frau Sonja. Die Villa der Neitzels wird verkauft, obwohl die Fundamente versumpft sind. Noch die Friedhofsmauer wird vom Milchauto zu Fall gebracht. Die Gräber stürzen ein. „Hier geht etwas zu Ende, was längst zu Ende ist, aber jetzt merke ich's erst“, sagt Neitzels selbst schon innerlich abgestorbener Sohn.

Seidel hat schon in der quälenden Agonie der DDR und dann mitten in der Turbulenz der letzten Monate, in denen er rastlos mitdemonstrierte und organisierte, ein Stück geschrieben, das an Bitterkeit und Vertrautheit mit dem Tod nur mit Bernard- Marie Koltés' letztem Stück Roberto Zucco zu vergleichen ist. Die Intensität des Vermächtnisses läßt auch die Schwäche des Stücks, seine redselige Überdeutlichkeit vergessen. Die Publikumsdiskussion in Mülheim geriet dann auch zu einer Art Gedächtnisandacht für Georg Seidel. Das Publikum schwieg in betroffener Zustimmung, und der Regisseur (Fritz Marquard), der Dramaturg (Jochen Ziller) und Seidels Witwe konnten ruhig ihre Würdigung des Autors vortragen.

Trotz seiner überpointierten Sprache ist Villa Jugend keine leicht zu entschlüsselnde Parabel. Es bemüht sich, „echte Menschen“ auf die Bühne zu stellen, ohne sich zu überheben. Tschechows Kirschgarten ist genauso Seidels dramaturgisches Vorbild wie Büchners Woyzeck. Gerade dadurch, daß die politische Zäsur von 1989 mit keinem Wort vorkommt, wird ein gesellschaftliches Klima deutlich, das einerseits den Zusammenbruch der DDR bewirkte, andererseits aber keinen Neuanfang aus eigener Kraft ermöglichte. Selbsttäuschung ist die Grundhaltung der Figuren. Der Widerspruch zwischen Lebensentwurf und Lebenswirklichkeit bricht auf und wird notdürftig wieder verkleistert.

Verglichen mit den Stücken Schwabs und Handkes ist Seidels Dramaturgie altväterlich. Ihm fehlt die abgekitzelte Selbstsicherheit der westlichen Autoren. Während die beiden Österreicher Texte schrieben, die auf das Theater als selbständigen Gegenpart warten, schreibt Seidel noch ein konventionelles Drama, das vom Theater nur bühnengerecht umgesetzt werden muß. Handke und Schwab erfinden Figuren für ihre Sätze, Seidel erfindet Sätze für seine Figuren. Seidels Text kann kongenial inszeniert werden, wie die Inszenierung des Berliner Ensembles zeigt. Handkes und Schwabs Texte müssen kontragenial inszeniert werden, was die eingeladenen Inszenierungen des Staatstheaters aus Hannover und des Schauspielhauses aus Wien leider nicht zeigten.

Seidel setzt, ohne ästhetisch naiv zu sein, ungemindert auf das, was der Vorzug des kritischen DDR-Theaters war: sein moralisches Engagement. Schon 1980 formulierte er kompromißlos seinen Standpunkt: „Wer nicht begreift, daß Theater eine Bildfindung unseres Seins ist, an der er mit seiner Phantasie mitzuarbeiten hat, dieser Zuschauer begreift gar nichts. ... Der Kopf des Zuschauers muß vor Anstrengung rauchen.“

Die Entscheidung der Jury für Seidels Villa Jugend ist auch eine Entscheidung gegen das Experiment, gegen den riskanten Debütanten Schwab für den sicheren Finalisten Seidel. Aber wenn dieses Votum dazu führen würde, daßVilla Jugend jetzt in der ehemaligen DDR häufig nachgespielt würde, hätte sie ihren Sinn. Denn mit diesem Stück könnten dort die Theater versuchen, etwas von ihrer Funktion wiederzuerlangen, den Zuschauern ein Stück ihrer ihnen selbst „verborgenen Existenz“ zurückzuformen, statt nur mit leichten Entspannungsübungen gegen den Umorientierungsstreß anzukämpfen. Und ein westdeutsches Theater, dasVilla Jugend spielen wollte, hätte die schwierige, aber dankbare Aufgabe, sich in die Verästelungen und Verschlingungen des resignativen Post-DDR-Gefühls hinein zu arbeiten, um es veränderlich zu machen.

Werner Schulze-Reimpell (Hrsg.): Stücke '76-'90 — 15 Jahre Mülheimer Dramatikerpreis . Prometh Verlag, Köln, 1991. 192 Seiten, 35DM.

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