: Feste und Festnahmen
■ „New York Times Square“, Mo., ZDF
Unter orthodoxen Dokumentarfilmern gilt derjenige, der zu Mitteln wie Zeitlupe und Bildarrangement greift, als nicht glaubwürdig. So etwas gehört sich nicht. Dokumentarfilme haben die Wirklichkeit gefälligst unverfälscht abzubilden. Es gibt jedoch Dinge, die sich nicht dokumentieren lassen. Dinge, die permanent aber unbemerkt geschehen. So ist es nicht möglich, über eine Schlägerei oder über kotzende Zuhälter einen Dokumentarfilm zu drehen. Und schon gar nicht darüber, wie ein zufällig vorbeigehender Passant mit dieser alltäglichen Situation umgeht.
Die Perspektive, die Charlie Ahearn einnahm, als er vom Herbst 86 bis zum Frühjahr 90 die Kamera einfach aus seinem im sechsten Stock liegenden Fenster an einer Ecke zum berüchtigten Times Square hielt, hat daher durchaus etwas voyeuristisches: Unten auf der Straße passiert etwas. Halblautes Geschrei dringt ans Fenster. Hastig wackelt die Kamera herbei und zoomt auf eine kleine Gruppe streitender Farbiger. Es geht eine Weile hin und her. Unvermittelt schlägt der eine den anderen k.o. und die Kamera schaltet auf Zeitlupe. Die Perspektive indes, aus der wir zuschauen, ist im Prinzip die gleiche, wie wenn sich an einer Autobahn-Unfallstelle endlose Staus bilden, weil die Vorbeifahrenden auf die Bremse treten, um einfach zu gaffen (passiert ununterbrochen). Dieser verpönte Gaffreflex hat etwas Unwillkürliches, Reflexhaftes, und genau das hält Ahearn in seinem home movie fest: Er dokumentiert, wie geschaut wird.
Distanz und Ausschnitthaftigkeit des Gesehenen definieren dabei schon den einfachen Blick aus dem Fenster zum Kino. Diese Distanz, die Unbeteiligtheit, die jeden Moment in Neugier umschlagen kann, spiegelt sich mitunter in dem, was die Kamera einfängt. So beobachten wir einmal einen Löschzug beim Bekämpfen eines Großfeuers. Dann wandert der Blick zwei Blöcke weiter nach links, wo wir im geöffneten Fenster jemanden seelenruhig vor der Glotze hängen sehen. Es ist diese unmittelbare Nähe, in der gegensätzliche Situationen angesiedelt sind, die beeindruckt.
Streitereien und Schlägereien, Feste und Festnahmen, ein Footballspiel und eine zwölf Meter lange Präsidentenlimousine beim Einparken — das alles erscheint wegen des fernen, leisen O-Tons tranceartig, fremd und abgespaced. Wie babylonische Realitätspuzzle, stummfilmartig. Ein absurdes Theater mit unendlich vielen Auftritten.
Auf eine kaum spektakuläre Art erzielt dieses kleine Filmchen eine maximale Wirkung. Es beschäftigt einen einfach. Derartige Projekte aus den Randbereichen des guten Geschmacks zu unterstützen, das wäre eine lohnende Aufgabe für's Fernsehen. Und das nicht erst kurz vor Mitternacht. Manfred Riepe
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