: Zurück! Beethoven war anders!
■ Interview mit Grete Wehmeyer über das herrschende industrielle Kunstideal und den Klavierabend mit Stephan Möller
„Beethoven war anders“, sagt die Pianistin und Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeyer, und provoziert damit das „industrielle Kunstideal“ der herrschenden Lehre. Der Stuttgarter Hochschullehrer Prof. Uhde verließ am Dienstag demonstrativ den Vortragssaal der Kunsthalle, als Grete Wehmeyer sich an den Flügel setzte, um „ihren“ Beethoven zu demonstrieren. Die Beethoven-Woche hat beide nach Bremen gebracht. Dienstag abend gab der Bremer Pianist Stephan Möller ein Konzert: klassisch die Hammerklavier-Sonate, mit dem Computer-Flügel ein Stück von Jens-Peter Ostendorf und insbesondere Beethovens „Große Fuge“ für Klavier vierhändig: Die beiden rechten Hände hatte er auf Diskette aufgenommen, der Computer drückte die Tasten des „Bösendorfer SE“, während der Pianist die beiden linken Hände spielend hinzufügte — das nach menschlichem Maß vierhändig unspielbare Werk wurde so live vorgeführt.
Wir sprachen mit Grete Wehmeyer nach dem Möller-Konzert.
Was für einen begnadeten Pianisten Bremen doch hat!
Grete Wehmeyer: Ganz sicher. Ich kannte ihn nicht, das für mich überzeugendste war das Spiel am Computerflügel. Gerade auch die Komposition von Jens-Peter Ostendorf. Wenn jemand so bezeugt, in welchem Maße er der Gegenwart verhaftet ist, dann hat er nur gute Karten. Dann darf er Beethoven spielen wie er möchte.
Mir gefällt Beethovens Version der Große Fuge für Streichquartett entschieden besser.
Jetzt geht da los, daß man sagt: Ist der Beethoven so oder so besser. Da sage ich: So, wie Stephan Möller es mit dem Computerflügel spielt, war es sicher nicht von Beethoven gemeint, in der Klanglichkeit nicht. Beethoven hatte damals einen relativ schwachen Flügel. Von zwei sensibel spielenden Leuten vorgetragen wäre etwas ganz anderes herausgekommen. Was Möller am Dienstag hier in Bremen gespielt hat, müßte man eine „Inszenierung“ nennen. Beim Theater darf der Regisseur auch alles, da geht es um Inszenierung. Warum eigentlich nicht in der Musik?
Die Klavierfassung klingt weniger hart als die für Streichquartett. Auf der Geige hört man, wie das Material zum äußersten belastet ist, die Saiten knarren ...
Das krachte gestern abend auch!
Sie würden die Große Fuge auf dem Flügel ganz weich spielen?
Nein, nicht ganz weich, aber doch schöner im Klang.
Stephan Möller sagt: Wenn Beethoven heute leben würde, wäre er ein Computer-Freak, der hätte es auch so gemacht.
Ohne Frage. Ob er dann diese Sachen komponiert hätte, ist eine andere Frage, Vielleicht eher wie der Ostendorf. Beethoven ist ja einer der Komponisten, die die Instrumente verändert haben, der eben Firmen wie Broadwood in London angeregt hat, einen stärkeren Flügel zu bauen.
Und Sie — haben eine weibliche Interpre ...
NEIN, nein! Wissen Sie: es gibt ein Diktat etwa seit 1920, daß klassische Musik — da wird Bach dazugerechnet — so schnell gespielt werden muß wie die Metronomzahlen es angeblich zeigen. Alle Musikstudenten müssen das. Das ist ein Diktat, das geht rund um die Welt wie die Ansprüche, die man an ein Auto stellt: schnell, glatt, blitzend, fehlerfrei, makellos. Jeder Einzelne muß so sein, damit er in die Gesellschaft hineinpaßt. Klassische Musik würde nicht in diese Gesellschaft hineinpassen, wenn sie das nicht liefern würde. Dafür muß man 10 Stunden am Tag und mehr üben.
Ich sehe nun, wie viele phantastisch begabte Musiker nichts werden deshalb — da sage ich: Hört mal, was befehlt ihr denn da! Das ist nicht so, wie Beethoven das gemeint hat! Da setzt meine Korrektur an. Und ich sage: Wollen wir mal nachschauen, wie war das mit dem Metronom. Muß man das so schnell liefern? Da stellt man fest, nein, nur die Hälfte an Geschwindigkeit. Also Amnestie vom Üben! Muß man denn die Lautstärke liefern? Nein, die hatten viel zartere, kleinere Instrumente gehabt. Und dann versteht man: Muß man denn zehn Stunden täglich üben, in Einzelhaft? Nein. Man könnte eine Amnestie haben. Man sieht dann, in welchem Maße Kunstausübung ein Zwillingsgeschwister der industriellen Produktion ist, im Augenblick. Da beziehe ich mich gerne auf Peter Sloterdijk: Keinen Millimeter weiter! Zurück! Das kann man nicht feministisch nennen.
Nun ist auch Stephan Möller auch so weltberühmt nicht. Er sperrt sich gegen die karajanige, Erwartungshaltung, er ist zu spröde für diese romantisierende, verunstaltete Musikwelt...
Die Musikwelt ist nicht romantisch-verunstaltend, sie ist chromglitzend. Und das liefert der Stephan Möller nicht, das rechne ich ihm hoch an. Der geht total auf Risiko. Daß er andererseits tempomäßig alles erfüllt, was verlangt wird, das ist klar.
Sie fanden die Hammerklaviersonate wunderbar?
Ja, aber ich stelle sie vollkommen anders vor. Das ist aber nicht schlimm — er spielt seine Inszenierung. Er spielt nicht nur brav das, was da steht. Er macht es mit einer revolutionären Agressivität, das ist wunderbar. Ohne Rücksicht auf Verluste. Er ist ein Draufgänger...
... „Verluste“ von was?
Von Glätte. Möller ist nur ICEmäßig schnell, aber nicht glatt.
Jens-Peter Ostendorf hat mit seiner Komposition vorgeführt, was der Computerflügel mehr kann als der Pianist. Ist das noch Musik?
Natürlich. Auch Musik, die ohne Finger gemacht wird, ist Musik. Ich komme aus Köln! Dieser scharfe hohe Ton, der sich da wiederholte! Wunderbar. Das ist Musik unter Einsatz dessen, was die moderne Technik bietet.
Das ist das, was mir an der Beethoven-Woche hier in Bremen so gut gefällt: Am Montag abend Luigi Nono, die Musik der Gegenwart, und der Beethoven, unser „teutsches Nationaleigenthum“ mit teha. Int.: K.W.
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