: Der Papst und die postindustrielle Welt
■ Das Fleisch hat nicht den Geist getötet
Die Kontinuität kirchlicher Denkkategorien — sie entwickelt sich vermutlich ohne ausdrückliche Absicht ihrer jeweiligen Repräsentanten — hat im Pontifikat Johannes Pauls II. eine neue, starke Bestätigung erfahren, vor allem in der Einschätzung der industriellen beziehungsweise postindustriellen Gesellschaft und ihrer Werte. Die Kirche hatte von Anfang an wenig für die moderne Zivilisation übrig, stand wissenschaftlicher Forschung wie religiöser Toleranz feindlich gegenüber, lehnte humanistische, weltliche, diesseitige und nun gar profane und hedonistische Bezüge der modernen Welt ab.
Genau diese Aspekte aber wurden in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts mächtig verherrlicht, vor allem aufgrund der Fortschritte der wohlstands- und kommunikationsfördernden Technik und der gesellschaftlichen Veränderungen. Dieser „laizistische“, antiideologische Aspekt der modernen Zivilisation betrifft nicht nur die Materialität des Lebens: Alles hat seine Sicherheit verloren, von der Wissenschaft bis zu den Ideologien. Unsere Werte stecken in einer tiefen Krise, der heutige Mensch ist durch Entfremdung geprägt, durch Drogen, Selbstmord, Neurosen, Psychosen, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit.
Dennoch kann man nicht sagen, daß „das Fleisch den Geist“ getötet hat, daß modernes Denken das Fehlen von Werten bedeutet, Orientierungslosigkeit, Unfähigkeit, Wahrheiten aufzuspüren. Tatsächlich eröffnet derzeit nur die moderne Zivilisation eine Perspektive für die Zukunft — allerdings im immer „laizistischeren“ Sinne (positiv, rational, humanistisch — in keinem Falle religiös oder glaubensgebunden).
Daß die Kirche darauf reagiert, ist verständlich; ebenso, daß sie solches nicht schätzt, ja gar verteufelt. Was bedeuten dann aber die verschiedenen Sozialenzykliken, von der Rerum novarum bis zum Centesimus annus 1991 für uns? Sicher nicht, daß wir derartige Dokumente als historisch unfundiert betrachten. Aber auch nicht, daß wir darin irgendwelche modernen Attitüden sehen.
Tatsächlich bedeuten diese Enzykliken, daß die Kirche eine der großen sozialen, kulturellen, moralischen Kräfte der modernen Welt bleibt. Und das tut unserer Welt nicht schlecht — viele ihrer Eigenschaften sind erst in der Auseinandersetzung mit diesen Gegenpositionen wirklich zum Tragen gekommen. Und schließlich ist auch unsere Kultur selbst aus dieser Tradition heraus entstanden. Giuseppe Galasso
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