: Die Stimme aus der Vorhalle
■ Toni Morrison las im Amerikahaus und alle kamen und lauschten
Zeit vergeht schnell in den Romanen der amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison. Zwischen zwei Sätzen können Jahre liegen, Jahre der Abwesenheit meist, Jahre, in denen die eine Hauptfigur die andere Hauptfigur nicht sieht. Die Abwesenheit in ihren Büchern ist endgültig, da das Geschehen nur selten in die Gegenwart hineinreicht, es kaum Telefone gibt und die Personen sowieso zu arm wären, um sich einen solchen Luxus zu leisten. Das Briefeschreiben hingegen würde zu einem so großen Fragezeichen der Abwesenheit werden, würde eine so große Unruhe in das Leben der Zurückgebliebenen, die die Briefe erhielten, bringen, daß schon deshalb darauf verzichtet wird. Überhaupt ist das Lesen und Schreiben für die Menschen, die die Hauptfiguren der Bücher Toni Morrisons sind, eine schwer erkämpfte Fähigkeit, sie könnte nie für leere Worthülsen benutzt werden. Kein »Uns geht es gut, das Wetter ist hervorragend«. Für die Afroamerikaner, deren Geschichte und Kultur Toni Morrison beschreibt, war und ist es keine Selbstverständlichkeit, an den Errungenschaften der amerikanischen Zivilisation teilzunehmen.
Toni Morrison las am Mittwoch abend im Amerikahaus aus ihrem letzten Roman Beloved, und tausend Menschen kamen, um ihr zuzuhören. Da der Saal restlos überfüllt war, wurden auch in der Eingangshalle Lautsprecher aufgestellt. Auf den Fensterbänken, auf einem Podest in der Mitte, auf dem Boden, auf der Treppe in den zweiten Stock und auf quer in der Halle herumstehenden Stühlen saßen und standen die Leute und lauschten den Ansagen aus den Lautsprechern.
Da Toni Morrison das Schreiben als Wiederentdeckung der afrikanischen Geschichte benutzt, die afrikanische Geschichte jedoch hauptsächlich auf mündlicher Überlieferung basiert, versucht die Schriftstellerin, das Moment, daß gesprochene Sprache nicht festgehalten werden kann, zur Grundlage ihrer Texte zu machen. Tonbandmittschnitte lehnt sie rigoros ab, das Wiederholen und nicht die technische Wiedergabe des einmal Gesagten macht Kommunikation aus, die Wiederholung läßt Raum für die eigene Interpretation. Die Interpretation jedoch ist gefärbt nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Umgebung, von zusätzlichen Geräuschen und von dem, was man sieht. Deshalb gibt es von etwas Gesagtem viele Interpretationen. Meine kommt aus der Vorhalle und nicht aus dem Saal. Ich sah, wie die ZuhörerInnen nicht der Frau zuhörten, sondern den Lautsprechern. Die warme, umhüllende Stimme der Erzählerin war der Hintergrund, auf dem sich die Menschen gruppierten.
Am Eingang zur Halle steht der Metalldetektor der Wachmänner und -frauen des Amerikahauses. Jedesmal, wenn ein Mensch hineinkommt und herausgeht, gibt es einen Pfeifton. Toni Morrison liest, wie die Kinder von Baby Suggs ihre Mutter verlassen haben, liest, wie Paul D. nach 18 Jahren Abwesenheit wiederkommt. Der Metalldetektor pfeift, wenn Menschen kommen und gehen. Noch immer versuchen Leute, in den Saal zu kommen, ein hoffnungsloses Unterfangen.
Die Frau, deren Stimme in die Vorhalle getragen wird, wird zur großen Erwarteten. Erst nach einer halben Stunde merken auch die Wachmänner, daß der Detektor pfeift und stellen ihn ab. it's not a house, it's us and it's you, sagt Toni Morrison und eine Polizeisirene erinnert die Zuhörenden daran, ihre übereinandergeschlagenen Füße zu wechseln. Nur die Hände der Zuhörenden bewegen sich kaum mehr. Alle haben mittlerweile ein Stichwort aufgefangen, das sie durch die verbliebene Zeit der Lesung trägt. Die Leidenschaft, mit der die Romanfigur Paul D. die Brüste von Sethe berührt, Brüste, die nicht als diejenigen einer Liebhaberin beschrieben sind, sondern als diejenigen einer Mutter, berührt so leicht eigene Erinnerungen. Und als wäre es das einzige, was zu tun bliebe, steht eine schwarze Frau auf und trägt ihr in einen grünen Anorak gepacktes Kind hinaus auf die Straße.
Aufgerissen durch tosenden Beifall, der über die Lautsprecher kommt, beginnen die Zuhörenden sich wieder auf sich zu konzentrieren. Einige stehen auf und drängen zum Saal, eine Frau packt ihren Schönheitsspiegel aus und kontrolliert ihr Make-up. Eine Afrikanerin mit drei Blumen im Haar steht langsam auf und wendet sich ihrem Freund zu. Toni Morrisons weniger lautmalerische Alltagsstimme beantwortet Fragen über die Bitterkeit des Schreibens und das Spiel der Sprache. Applaus und Gelächter dröhnt über die Lautsprecher. Eine Frau, deren roter, exzentrischer Hut hervorsticht, sitzt jetzt vor der Wand, auf der Duane Michals Fotoserie Zufällige Begegnung ausgestellt ist, und die junge Frau mit der umgedrehten Schirmmütze mit den aufgestickten Goldelefanten dreht sich um und geht auf den kanadischen Professor zu, den ich zwei Tage vorher zufällig in der U-Bahn traf und für einen bayerischen Touristen hielt. Waltraud Schwab
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