: Das Parlament probte die Spontaneität
■ Abgeordnete konnten erstmals überraschende Fragen stellen/ Debatte über Gewalt gegen Minderheiten
Berlin. Ein halbes Jahr nach der Abwahl des rot-grünen Senats hat die »Irgendwie, Du«-Generation das Abgeordnetenhaus doch noch endgültig erobert. Mit den warnenden Worten »Jetzt bricht die Spontaneität aus«, läutete Parlamentspräsidentin Hanna-Renate Laurien (CDU, 63, ledig) gestern eine neue und bundesweit einmalige Form des Parlamentarismus ein. In einer »Aktuellen halben Stunde« hatten die 241 Abgeordnete zum erstenmal in der Berliner Parlamentsgeschichte das Recht, ihre SenatorInnen mit völlig unerwarteten Fragen zu traktieren.
Das konnte natürlich nicht gutgehen. Die Regierenden wußten meist keine rechte Antwort, die Abgeordneten waren frustriert. »Da ist meine Spontaneität überfordert«, mußte etwa Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) passen, als ihn der SPD-Parlamentarier Joachim »Bibi« Günther nach dem Ausbau der Amerika-Gedenkbibliothek fragte. Die PDS zeigte sich als würdige Nachfolgerin der SED, sie hatte keine Fragen. Die Antworten auf alle Fragen, man weiß es, sind bereits in den Blauen Bänden niedergelegt.
Ein Mann wurde schmerzlich vermißt: der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU). Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/ Grüne, Renate Künast, wollte von ihm wissen, was der Stand der Verhandlungen zum Nordostdeutschen Rundfunk sei. Parlamentspräsidentin Laurien mußte zugestehen, daß alle Bedingungen für eine Spontanfrage erfüllt seien: Künasts Frage sei kurz gefaßt, von allgemeinem Interesse und sie greife einen Gegenstand auf, der nicht bereits auf der Tagesordnung stehe. »Das alles haben Sie erfüllt«, lobte Laurien, »nur ist keiner da, der Ihre Fragen beantworten kann«. Mit dem Zwischenruf »Bravo« bewies der CDU-Abgeordnete Steffen, daß ihm das Wesen einer geordneten Spontaneität noch fremd ist.
Die zunehmende Gewalt gegen Minderheiten war anschließend Thema der regulären »Aktuellen Stunde«. In der von Bündnis 90/ Grüne beantragten Debatte setzte sich Jugendsenator Thomas Krüger (SPD) für eine »konzertierte Aufklärungsaktion« ein. Es müsse eine zentrale politische Aufgabe sein, zu verhindern, daß sich der »soziale Analphabetismus« in beiden Stadthälften weiter ausbreite, sagte Krüger. Die SPD-Fraktion unterstützte Krügers Forderung nach zusätzlichen Mitteln für die Jugendarbeit. Zehn Millionen Mark seien für Schritte gegen die Jugendgewalt »absolut notwendig«, sagte Gerhard von Essen. Auch die CDU-Abgeordnete Barbara Saß- Viehweger zeigte sich besorgt über die zunehmende Gewalt gegen Schwule, Lesben und Ausländer. Sie forderte eine große Initiative »Berlin gegen Gewalt«. Christian Pulz von Bündnis 90/ Grüne warf dem Senat vor, er erkenne den Ernst der Lage nicht. Jeden Tag werde ein Schwuler oder eine Lesbe tätlich angegriffen, die Dunkelziffer sei hoch. Pulz verlangte neue sozialpädagogische Konzepte. Auch der FDP-Abgeordnete Thomas Seerig sprach sich gegen einen verstärkten Polizeieinsatz aus. Gewaltprobleme könne »man nie durch Gewalt lösen«. Anlaß der Debatte war der Überfall von Skinheads auf ein Fest von Schwulen und Lesben in Mahlsdorf am vorletzten Samstag. taz/dpa
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