Eine Mauer des Schweigens in Wittenberge

■ Im Mai wurden zwei Namibier in einer brandenburgischen Kleinstadt von einem Balkon im 4. Stock geworfen/ Die Polizei hat keine Ergebnisse/ Die Bürger munkeln/ Die Täter sind immer noch unbekannt/ Die Politiker halten sich bedeckt

Wittenberge (taz) — Noch immer wirkt Wittenberge wie gelähmt. Anfang Mai ging eine Meldung aus der brandenburgischen Kleinstadt um die ganze Welt — selbst US-amerikanische Rundfunkstationen berichteten über das Beispiel für aufkeimenden Rassismus in den neuen Bundesländern Deutschlands: Deutsche unternahmen nach gewaltsamen Auseinandersetzungen einen gezielten Rachefeldzug in ein Ausländerwohnheim und stießen zwei junge Namibier von einem Balkon im vierten Stock. Die beiden Schwarzen überlebten den Sturz, einer von ihnen mit schweren Verletzungen.

Wer die Wittenberger heute über die Ereignisse jener Nacht befragt, stößt auf Mauern des Schweigens. Und das, obwohl zahlreiche Anwohner den Vorfall beobachtet hatten. Nur ein einziger war zur Zeugenaussage vor der Polizei bereit. Dabei scheinen die Wittenberger im Geheimen die Übeltäter längst ausgemacht zu haben. Die Gerüchteküche kocht, manch einer munkelt von Neonazis. Von einer bestimmten rechtslastigen Clique ist immer wieder die Rede, und von bestochenen Polizisten. Selbst Kommunalpolitiker — die zwar namhaft sind, aber ihren Namen nicht in der Zeitung lesen wollen — reden offen von Schutzgeldern, die die Täter gezahlt haben sollen.

Doch für den wachsenden Ausländerhaß, den der Überfall demonstriert, finden viele unter den 30.000 Wittenberger Bürgern Verständnis oder klammheimliche Sympathie. Eine Studentin, die ebenfalls ungenannt bleiben will, rechtfertigt sogar das Vorgehen der Gewalttäter. Sie habe afrikanische Wohnungsnachbarn, die angeblich so laut sind, daß „es mich nicht wundert, daß sowas mal passiert.“

Scheinbar wundert sich hier niemand und der „gewendeten“, schlecht ausgerüsteten Polizei traut ohnehin keiner etwas zu. Ermittelt wird „aufgrund des öffentlichen Interesses“ inzwischen vom Bezirkskriminalamt in Potsdam. Die Polizei hat das Verbrechen noch nicht aufgeklärt und steht schon vor dem nächsten Fall: Ein Zeuge, der sich mit seinen Beobachtungen in die Medien wagte, hat postwendend einen anonymen Drohbrief erhalten. Wieder tappen die brandenburgischen Beamten im dunkeln: hierzulande sind derartige Drohbriefe völliges Neuland. „Es gibt keine etablierte Szene, mit der wir schon bestimmte Erfahrungswerte gesammelt hätten, wie zum Beispiel extremistische Organisationen im Westen“, meint der Polizeisprecher im zuständigen Innenministerium, Gerd Pietkrowski.

Aber auch mit der politischen Aufarbeitung der Ereignisse tut sich die Stadt Wittenberge schwer. Während die Ausländerbeauftragte des Landes, Almut Berger, kurz nach der Schreckenstat an die Öffentlichkeit trat, mahnten Vertreter des Neuen Forums das Wittenberger Stadtparlament bislang vergebens eine offizielle Stellungnahme an. Und als ein Abgeordneter der Bürgerbewegung, Wolfgang Herms, im Parlament von seinem Krankenhausbesuch bei den verletzten Namibiern erzählte, hielt ihm ausgerechnet ein Vertreter des Kulturbundes entgegen, er solle sich doch auch um die Deutschen kümmern, die bei der dem Racheakt vorausgegangenen Messerstecherei verletzt wurden.

Die Forderung vom Neuen Forum, einen städtischen Ausländerbeauftragten einzustellen, der sich gezielt um das Miteinander von Deutschen und Ausländern in Wittenberge kümmert, fand im Parlament keine Mehrheit. Statt dessen schob man das Problem an einen „Runden Tisch“ für Ausländerfragen ab, bei dem die Stadtväter von Kirchenvertretern unterstützt werden. Bei der ersten Sitzung waren den Abgeordneten Resignation und Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben.

Auf der Suche nach den Ursachen für den Gewaltausbruch bemühte man das soziale Elend in der Stadt: Der Wittenberger Bürgermeister Sigmar Luft (CDU) philosophierte über hohe Scheidungsraten und „unsere gebeutelten Kinder“, sein Sozialdezernent Klaus Petry (SPD) spannte den Bogen zur wirtschaftlichen Lage der Stadt: „Die Situation wird sich noch verschlechtern.“ Immerhin plädierte das Gremium schließlich einmütig für die Einstellung eines Ausländerbeauftragten. Das Geld dafür soll zum Teil aus Bonn kommen.

Zur gleichen Zeit versuchte sich die „Junge Gemeinde“ der evangelischen Kirche in praktischer Solidarität. Sie hatte die jungen Namibier zu sich eingeladen. Das Engagement hat der Kirchengemeinde viel Lob eingebracht. Doch die ChristInnen selbst warnen vor zu hohen Erwartungen. So betont Jugendpfarrer Reinhard Torch, daß die Kirche „nur Signale setzen kann“. Hinter der Abwehrhaltung innerhalb der Wittenberger Bevölkerung vermutet der Pastor mehr als nur die Angst vor Erpressungsversuchen und Drohbriefen. Die Ex-DDR-Bürger seien im Augenblick zu sehr mit sich selbst beschäftigt: „Niemand will die Dinge an sich heranlassen.“

Einer der Namibier, der nach dem Angriff der Deutschen wochenlang mit lebensgefährlichen Verletzungen in einem Magdeburger Krankenhaus lag, ist in der vergangenen Woche entlassen worden. Zur Verwunderung der Ärzte trägt er keine bleibenden körperlichen Schäden davon. Wie aber wird er mit der Angst fertig? zl