„Aufgeklärt, demokratisch, solidarisch und unideologisch“

■ Hundert Jahre nach Gründung des „Deutschen Metallarbeiterverbands“ (DMV) präsentiert sich die IGM heute als moderne Interessenvertretung

Ihren Proletarierlook hat die Industriegewerkschaft Metall längst abgelegt. Zwar ist sie immer noch die größte Arbeiterorganisation im Lande, zwar bilden die Angestellten ungeachtet ihrer inzwischen erreichten Mehrheit in den Betrieben in der Gewerkschaft nach wie vor nur eine qualifizierte Minderheit. Aber in den Büros der Zentrale in der Frankfurter Wilhelm-Leuschner-Straße ist dasselbe Outfit tonangebend wie in den benachbarten Konzern- und Bankenhochhäusern. Und wer heute im Blaumann das IG-Metall-Büro in Hamburg betritt, „läuft Gefahr, in den Heizungskeller geschickt zu werden“, wie der Historiker Gerhard Beier in der IGM-Funktionärszeitschrift 'Der Gewerkschafter‘ schreibt.

Hundert Jahre nach der Gründung des ersten Zentralverbandes der deutschen Metallarbeiter, des auf einem Kongreß Anfang Juni 1891 gegründeten „Deutschen Metallarbeiter-Verbandes“ (DMV), präsentiert sich die IGM als ein Traditionsverband mit Zukunft, als Organisation für den modernen Arbeitnehmer: unideologisch, aufgeklärt, demokratisch, den alten Werten der Solidarität verpflichtet, aber gleichzeitig der Zukunft zugewandt. So jedenfalls sieht das Selbstbild der mit rund 3,7 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft der Welt aus.

Das Jahr 68 spielt in der Geschichte der Metallarbeitergewerkschaft eine besondere Rolle. 1868 wurden die ersten Vorläuferorganisationen des DMV gegründet. Es waren kleine, unscheinbare Vereinigungen, in mancher Hinsicht noch Ausläufer des großen demokratischen Aufstands von 1848. Vor allem aber waren diese Vereine Vorboten einer „neuen sozialen Bewegung“ der entrechteten und ausgebeuteten Arbeiterschaft, die sich in Deutschland erst gegen Ende des 19.Jahrhunderts zur bewußten Klasse organisiert hat. Bei der Gründung des DMV im Jahr 1891, wenige Monate nach der Aufhebung der Bismarckschen Sozialistengesetze, vollzog die deutsche Gewerkschaftsbewegung gegen heftige innere Widerstände lokaler und berufsständisch orientierter Arbeitervereine ihren ersten großen Modernisierungsschritt: von der Organisierung unterschiedlicher Berufsgruppen zur Organisation von Belegschaften und Branchen. Mit diesem Schritt hat die deutsche Arbeiterbewegung schon im späten 19.Jh. ein Element der Einheitsgewerkschaft verwirklicht, das in vielen Ländern bis heute nicht erreicht ist, aber inzwischen weltweit als vorbildlich anerkannt wird: das Prinzip „ein Betrieb — eine Gewerkschaft“ und „eine Branche — eine Gewerkschaft“.

Es hat länger als ein halbes Jahrhundert gedauert und bedurfte offensichtlich der durch eigene Fehler mit verursachten furchtbaren Niederlage der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung durch den Faschismus, bis ein weiteres Element der Einheitsgewerkschaft verwirklicht wurde: die parteipolitische Unabhängigkeit. Zwei Weltkriege, die gescheiterte Weimarer Demokratie, Faschismus, Völkermord, die brutalste Unterdrückung aller Fraktionen der Arbeiterbewegung — all dies führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu der Einsicht, daß Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten nicht in das politische Korsett einer bestimmten Partei, auch nicht der sozialdemokratischen, gepreßt werden kann. Seitdem vollführt die deutsche Gewerkschaftsbewegung, allen voran die Industriegewerkschaft Metall, einen ständigen Eiertanz zwischen parteipolitischer Unabhängigkeit und sozialdemokratischer Richtungsorganisation.

Die IG Metall hat sich dabei immer bestimmte Extravaganzen geleistet. So ist wenig bekannt, daß der legendäre IGM-Vorsitzende Otto Brenner Ende der 60er Jahre dem von der SPD verstoßenen Sozialistischen Deutschen Studentenverband (SDS) in der Frankfurter Gewerkschaftszentrale zeitweilig ein Büro zur Verfügung stellen ließ, bis sich dieser organisatorisch wieder auf eigene Beine stellen konnte. Und von Heinz Brandt (linker DDR-Dissident) bis Jakob Moneta (Trotzkist) hat die IG Metall häufig linke Abweichler vom bundesdeutschen Meinungs-Mainstream bei sich aufgenommen. Die außerparlamentarischen Bewegungen der Nachkriegszeit, von der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung und Atomaufrüstung bis hin zur Studentenbewegung, haben immer auch von der Unterstützung durch Teile des gewerkschaftlichen Apparates gelebt, ohne daß dies sichtbar wurde.

Eugen Loderer, Brenners Nachfolger als IG-Metall-Vorsitzender, hat diese Politik nicht fortgeführt. Erst ab Mitte der achtziger Jahre unter Franz Steinkühler setzt die IGM wieder stärker auf die Öffnung zu den „neuen sozialen Bewegungen“. Diese Politik wird von einer Generation hauptamtlicher Gewerkschafter getragen, die ihre politischen Prägungen im Kontext der außerparlamentarischen Auseinandersetzungen ab 1968 erhalten hat. Fast könnte die gegenwärtige Phase der programmatischen und praktischen Erneuerung der IGM-Politik als dritte Modernisierung des Konzepts Einheitsgewerkschaft bezeichnet werden: über den eng gefaßten parteipolitischen Pluralismus bzw. Proporz hinaus zur Integration einer Vielfalt sozialer, ökologischer und politischer Interessen.