: Vom Ost-Knast in den West-Knast
■ Übersiedler B. wegen „Vollrausch“ verurteilt
Die Übersiedlung aus der DDR nach Bremen brachte Horst B. kein Glück. Im goldenen Westen ergeht es dem 39jährigen Schlosser nicht viel anders als während seiner Zeit in Merseburg bei Halle. Zehn Monate nach seinem Abschied aus der DDR im Januar 1990 — kurz zuvor erst war er dort aus dem Gefängnis entlassen worden — wurde er wieder eingebuchtet, diesmal von der westdeutschen Polizei. Im Wohnheim für ÜbersiedlerInnen in Bremen- Habenhausen hatte er seinen Freund mit einem Küchenmesser tief in den Bauch gestochen und lebensgefährlich verletzt. Gestern verurteilte ihn die Zweite Große Strafkammer des Bremer Landgerichts zu zweieinhalb Jahren Gefängnis.
Das Übergangswohnheim in der Steinsetzerstraße war im November 1990 voll belegt. In manchen Zimmern lebten vier ÜbersiedlerInnen, Horst B. und seine arbeitslose Freundin Christa K. hatten seit einiger Zeit ein Zweibett-Zimmer. Beide waren Alkoholiker, verstanden sich nicht mehr gut, Christa K. techtelte heftig mit dem gemeinsamen Freund Heinz K. — ebenfalls arbeitslos — und hatte sich mit diesem auch schon verlobt.
Das Ganze ging Horst B. irgendwann so über die Hutschnur, daß er sich nach dem Genuß zweier Flaschen Weinbrand und mehrerer Biere ein Küchenmesser schnappte, zu Heinz K. rüberging und kurz zustieß. Wäre der Arzt nicht so schnell gewesen, wäre K. verblutet.
Richter Kurt Kratsch führte den Ausbruch auf Horst B.s Alkoholprobleme zurück, der Verteidiger nannte die miese Wohnsituation im Übergangsheim. Dazu kam: Der Angeklagte arbeitete seit mehreren Monaten bei einer Leiharbeitsfirma, die ihn für Montagearbeiten nach Gummersbach verlieh. Er kam nur alle 14 Tage für ein Wochenende nach Hause.
Nach seiner erfolgreichen Lehre als Schlosser beim VEB Leuna Werke „Walter Ulbricht“ bekam Horst B. bald „Schwierigkeiten mit dem Staat“, wie er sagte, flüchtete sich in den Alkohol und stellte zweimal einen Ausreiseantrag: 1972 und 1979. Doch erst 1990 durfte er das Land verlassen. In der Zwischenzeit wurde er noch mehrmals zu Gefängnisstrafen verknackt. Horst B.: „Ich wollte nicht mehr arbeiten für diesen Staat.“
Diese Vergangenheit holte ihn gestern vor dem Landgericht wieder ein. Richter Kratsch: „Wir haben jetzt gute Beziehungen nach drüben, wir kriegen jetzt die Akten.“ Und las dem Angeklagten sein sozialistisches Sündenregister vor: asoziales Verhalten, mangelnde Arbeitsdisziplin, geringe Verankerung im Kollektiv, Diebstahl... Auch die Bewertungen der realsozialistischen Richter ging so unüberprüft in den Urteilsspruch des westdeutschen Kollegen ein. och
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