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Indiens „Unberührbare“ — beliebtes Stimmvieh

Traditionell sind die Unterkasten und Kastenlosen in Indien ein Reservat der Großparteien/ Nun wirbt eine „Partei der Mehrheit“ (BSP) um ihre Stimmen/ Politische Unsicherheit gibt der neuen Partei Auftrieb — ein Programm hat sie jedoch nicht  ■ Aus Delhi Sheila Mysorekar

„Wir wollen kein Mitleid, wir wollen Macht.“ Kanshi Ram, Vorsitzender der „Bahujan Samaj Party“ (BSP) gibt sich ganz sicher: „Wir sind die Partei, die im Kommen ist, wir machen Politik für die Mehrheit. Vielleicht noch nicht bei diesem Mal, aber spätestens bei den nächsten Wahlen werden wir in einigen Staaten die Regierung stellen.“

Das klingt nach Großtuerei, nach Propaganda oder Wunschdenken einer Partei, die bei den letzten Wahlen gerade mal drei von über 500 Sitzen im Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments, gewann. Doch Kanshi Ram könnte recht behalten. Die BSP hat Aufwind. Sie wendet sich an Indiens „Unberührbare“, die unterprivilegierten Kasten und die Kastenlosen. An diejenigen, die im komplexen Kastensystem der Hindus mit seinen Tausenden von Unterkasten ganz unten stehen. Ein vor über zehn Jahren von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht, der Mandal Report, hatte festgestellt, daß über 50 Prozent der indischen Bevölkerung zu 3.743 Unterkasten gehören, deren Mitglieder nach ihrem geringen sozialen Status und ihrem niedrigen Bildungsniveau als rückständig gelten.

Die 1984 gegründete BSP propagiert eine Vereinigung der unterprivilegierten Kasten und Kastenlosen — die sogenannten Unberührbaren — sowie religiöse Minderheiten. Sie strebt, so erklären ihre Sprecher, eine egalitäre Gesellschaft an, in der alle gleich sind. Die Parteizentrale in New Delhi ist in einigen kleinen Zimmern untergebracht, die vollgestellt sind mit Stapeln von Wahlplakaten. An den Wänden hängen Bilder von Dr. Bhimrao Ambedkar, dem Kämpfer für die Rechte der Unberührbaren in den 40er und 50er Jahren. Ambedkar selbst war Kastenloser, der an der Columbia-Universität Recht studiert hatte und von Nehru erwählt worden war, das Komitee zu leiten, das die indische Verfassung schrieb.

Die meisten Aktivisten im Parteibüro arbeiten ehrenamtlich; viel Geld hat die BSP nicht. Kanshi Ram über die Geschichte der Partei: „Die BSP ist das Ergebnis eines langen Kampfes. 1848 organisierten sich Kastenlose zum ersten Mal, um ihre Rechte einzufordern. Die ersten Quotierungen in Arbeits- und Ausbildungsstellen haben sie schon 1932 erkämpft. Jetzt wollen wir im Lok Sabha unsere Politik vertreten.“ Für die Harijans („Kinder Gottes“, der Name, den Mahatma Gandhi den Unberührbaren gab) sind im Lok Sabha 79 Sitze resierviert. In den 44 Jahren seit Indiens Unabhängigkeit hat meist die Kongreßpartei die überwiegenden Stimmen dieser reservierten Sitze bekommen. Der Kongreß konnte mit mindestens 70 Prozent der Harijan-Stimmen rechnen.

Doch die Wahlen von 1989, bei denen die Kongreßpartei mit ihrem Ministerpräsidenten Rajiv Gandhi verloren, brachten eine radikale Änderung. Die oppositionelle BJP/Janata-Dal-Allianz verbuchte mehr Harijan-Stimmen als der Kongreß und die BSP zog mit drei Abgeordneten ins Parlament ein. Keine politische Partei hatte ein Monopol auf die Harijan-WählerInnen, nicht einmal mehr der Kongreß, der sich all die Jahrzehnte als politische Stimme der Unterdrückten verstanden hatte und dies auch im Wahlkampf verkaufte.

Die hinduistische Bharatiya Janata Partei (BJP) und die Janata-Dal- Partei hatten aus völlig entgegengesetzten Gründen Erfolg bei den Harijan. Der Aufruf der BJP, einen Hindu-Staat zu errichten, ging an Hindus aller Kasten und stellte so paradoxerweise ein einheitliches Ziel für die verschiedenen Kasten her. Eine Ironie ist es deswegen, weil BJP gleichzeitig die Moslems und andere religiöse Minderheiten angreift und zudem in ihrer Parteistruktur — vor allem in ihren Schwesterorganisationen RSF und VHP — mehrheitlich aus Mitgliedern höherer Kasten besteht.

Die Janata Dal wiederum konnte Harijan-Wählerstimmen gewinnen, weil sie konkrete Verbesserungen für die wirtschaftliche Situation der unterprivilegierten Kasten versprach. Insbesondere eine höhere Quotierung bei den begehrten staatlichen Stellen. „Soziale Gerechtigkeit“ ist auch in diesem Wahlkampf das Schlagwort für Janata Dal. „Janata Dal und Kongreß sind nur darauf aus, die Harijan-Stimmen zu bekommen“, meint Kanshi Ram. „Konkret gemacht haben sie doch nichts. Es ist einfach heuchlerisch, die Quotierung für die unterdrückten Kasten und Kastenlosen bei den begehrten staatlichen Stellen zu erhöhen, wenn noch nicht mal die existierenden Quoten wirklich mit Leuten aus diesen sozialen Gruppen gefüllt werden. Das steht alles nur auf dem Papier. Aber für eine bessere Ausbildung der Harijans wird nicht viel getan. Das jedoch ist die Voraussetzung für eine echte politische Emanzipation.“

Die Kastenlosen stellen 17 Prozent der Bevölkerung. Wenn sie ihre Stimmen geschlossen einer Partei geben, könnte dies in vielen Wahlkreisen wahlentscheidend sein. Noch nie wurde in einem Wahlkampf soviel um die Harijans geworben wie diesmal. Die politischen Organisationen und Bewegungen der Harijans haben traditionell ihren Rückhalt im Süden, vor allem im Staate Maharashtra. Doch die BSP hat auch im Norden vermehrt Einfluß gewonnen, vor allem im Punjab und in Uttar Pradesh, wo die anderen Parteien schon eine mögliche Koalition mit der BSP ausloten. „Wir sind die Mehrheit im Lande“, sagt Kanshi Ram. „Der Name unserer Partei — Barujan Samaj — bedeutet ,Mehrheit der Gesellschaft‘. Die Unterdrückten sollen ein Gefühl dafür bekommen, daß sie die Mehrheit und damit die Mächtigsten im Lande sind. Wir nennen uns nicht mehr Dalit (Unterdrückte), wir sagen einfach: wir sind die Mehrheit!“

Ein klares politisches Programm gibt es nicht. „Das wird geschrieben, wenn wir die ersten Schritte hinter uns haben“, erklärt Vishal Mambalwadi, Sozialarbeiter und Christ, einer der vielen freiwilligen Helfer der BSP. „Aber eines ist sicher: Es kann keine echte Entwicklung geben, ohne die politischen und sozialen Machtstrukturen anzugreifen. Und dazu gehört das Kastensystem.“

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