: Nord oder Süd-West — Autobahn gegen Autobahn
Ein ganzer Landkreis bei Halle kämpft für die Verlegung der Autobahntrasse/ Wenn's nicht klappt, ist Europas größte Graureiherkolonie im Eimer ■ Von Steve Körner
Halle. Wo hat man sowas schon gesehen? Ökologen und Ökonomen friedlich vereint im Kampf für eine Autobahn. Der Mann vom Neuen Forum ist dabei, der Umweltmensch von der SPD, der liberale Wirtschaftspolitiker und der christdemokratische Bürgermeister. Und selbst die grüne Landtagsabgeordnete wird rot vor Eifer, wenn das Wort Autobahn fällt: „Diese gebeutelte Region braucht den Anschluß an das Bundesschnellstraßennetz, wenn sie eine Zukunft haben soll.“
Ein seltener Glücksfall, könnte man meinen. Wenn nicht genau dieser Anschluß augenblicklich vollkommen in den Sternen stehen würde. Obwohl die Autobahn natürlich gebaut wird. Bloß eben nicht dort, wo sie nach Meinung der Schkopauer, Dürrenberger und nahezu aller übrigen Einwohner des Landkreises Merseburg gebaut werden müßte. Und so ist der Kampf für die Autobahn für alle Beteiligten zugleich ein Kampf gegen sie. Kein verrückter Schriftsteller hat sich dies seltsame Stück deutscher Gegenwart ausgedacht, sondern ein schlichter, ahnungsloser Straßenplaner.
Der Schuldige ist tot. Die Pläne zum Bau des südlichen Teils des Autobahnringes um Halle, der die A9 mit der Autobahn Halle-Göttingen verbinden soll, wurden schon in brauner deutscher Vorzeit geschmiedet. Hitlers Autobahnstrategen steckten damals die Trassen ab, zogen die Geraden, die Bauminister Krauses Augen heute noch zum Leuchten bringen. Um 1975 herum kramten DDR-Planer die Unterlagen aus den dreißiger Jahren zum ersten Mal wieder hervor. Der Staub wurde heruntergeblasen, hier etwas korrigiert, da etwas zurechtgebogen. Da das Geld für die Umsetzung sowieso nicht da war, verschwanden die Akten und Karten nach einiger Zeit folgenlos wieder im Archiv des halleschen Straßenbauamtes.
Bis die Wende kam. Plötzlich stand die Autobahn wieder auf der Tagesordnung. Plötzlich waren die alten Unterlagen wieder Gold wert. Und plötzich kämpft eine Region gegen die Gespenster aus der Mottenkiste mittelalterlicher Verkehrsplanung.
Der Streitpunkt ist die Trassenführung. Nördlich von Merseburg entlang? Oder südlich um die Stadt herum und anschließend durchs ausgekohlte, wirtschaftlich daniederliegende Geiseltaler Braunkohlerevier? Das sind die beiden Varianten, die von den verschiedenen Seiten vehement verteidigt oder beharrlich bekämpft werden.
Ein Blick auf die Karte macht das Dilemma deutlich, in dem die Merseburger und ihre Politiker stecken. Die Nordroute schneidet die Stadt Merseburg nämlich quasi von der Metropole Halle ab. Der engere Autobahnring direkt am halleschen Stadtrand entlang, wie er derzeit vom Landesstraßenamt, dem Regierungsbezirkspräsidenten und der Landesregierung favorisiert wird, umschließt nur Halle. Und Merseburg, obgleich eigentlich zweites Standbein des Großraumes, bleibt schlichtweg außen vor: Die Stadt und der Landkreis, so befürchtet man nun, könnten zur Verkehrsprovinz werden, zum zuganglosen Hinterland Halles, das keinen Investor mehr hinter den Leitplanken hervorlockt und das so auf lange Sicht zur unterentwickelten Wirtschaftswüste verkommen könnte.
Der Alternativvorschlag, genannt „Südwestvariante“, ausgearbeitet in Merseburg und von den Bürgermeistern und Gemeinderäten nahezu aller Langkreisgemeinden mitgetragen, berücksichtigt sowohl die Belange des Umweltschutzes als auch die des Verkehrs und der territorialen Wirtschaft [das hieße ja Eisenbahn statt Autobahn, säzzer].
Heidrun Heidecke, Abgeordnete von Bündnis 90/Grüne im sachsen- anhaltinischen Landtag: „Und trotzdem versucht man, die völlig überholten planerischen Vorstellungen durchzudrücken, als hätte es seit 1936 keine einschneidenden Veränderungen in der Landschaft hier gegeben.“
In Merseburg sind sich die Umweltschützer und Wirtschaftspolitiker einig: Die Trassenführung durch die Elster-Aue, eines der letzten Natur-Refugien der Region; durch den Meserburger Stadtpark und dann weiter über die Rückstandshalde des Buna-Werkes, von der niemand weiß, was auf ihr und in ihr eigentlich gelagert ist, ist die falscheste, die man sich nur ausdenken kann.
Während die Naturfreunde dabei vor allem die verheerenden ökologischen Auswirkungen des geplanten Autobahnbaues am nördlichen Stadtrand im Auge haben, protestieren die Ökonomen aus ganz anderen Gründen. Ihnen macht die Autobahn mit ihrem Zwei-Kilometer-Planungskorridor einen Strich durch ein bereits komplett eingeplantes und an verschiedene Investoren vergebenes Gewerbegebiet. 1.500 Arbeitsplätze, die kleine und mittelständische Firmen dort ab September schaffen wollten, stehen nun wieder in den Sternen. Der Korridor muß freigehalten werden, solange die Nordtrasse nicht verworfen ist.
Die Süd-West-Alternative liegt seit geraumer Zeit auf dem Tisch. „Mit ihr könnten alle Beteiligten leben“, meint Dieter Reckmann vom Neuen Forum Merseburg. Und mehr als das.
Die Südwesttrasse würde nicht nur, wie Umweltdezernent Steffen Eichner betont, „weitgehend an ökologisch wertvollen Flächen wie der Kollenbeyer Graureiherkolonie oder der Elster-Luppe-Aue vorbeiführen“, sondern auch „dem Geiseltal eine Chance auf eine Zukunft nach der Kohle geben“, wie Kreisplanungschef Aribert Weigelt hofft. Die heutige Wüste aus fünfzig Quadratkilometern voller Abraumkippen und leeren Kohlegruben könnte vielleicht schon in zehn, fünfzehn Jahren das größte Naherholungsgebiet Mitteldeutschlands und Anziehungspunkt für moderne Industrien sein. „Doch dazu braucht die Region die Autobahn“, betont Heidrun Heidecke. Eine Autobahn entlang der Süd-West-Trasse.
„Die Nordtrasse dagegen wäre fürs Geiseltaler Revier genauso verhängnisvoll wie für die Natur in der Aue vernichtend“, meint Heidrun Heidecke, die als Lehrerstudentin selbst irgendwann mal „einige von diesen Reihern beringt“ hat und heute im Umweltausschuß des Landttages sitzt. Nicht nur die Reiher würden durch die Autobahn in Mitleidenschaft gezogen. „Auch der Rote Milan“, befürchtet Rudolf Schwarz von der Merseburger Ornithologengruppe, „der in der Aue die größte Brutdichte der Welt hat, würde das nicht überleben.“
Doch auch die Planer aus Halle haben natürlich ihre ganz speziellen Sachzwänge. Na klar, würde die Nordvariante von allen vor Ort Betroffenen so ziemlich einhellig abgelehnt. Darüber sei man sich schon im klaren. Aber die Nordtrasse hat eben den einen großen, den einen vielleicht entscheidenden Vorteil. Sie ist da. Ausgeplant und ausgemessen.
Und so wird denn notgedrungen auf die Planungsunterlagen der ökologischen Steinzeit zurückgegriffen. „Der Herr Wirtschaftsminister hat den Leuten von der Straßenplanung wahrscheinlich gesagt: Für dies Jahr sind soundsoviele Millionen da — wo habt ihr die Projekte, die wir angehen können?“, vermutet Umweltamtchef Eichner, denn seine Alternativtrasse ist erst mal nicht viel mehr als ein Strich auf der Landkarte.
Einen ersten Erfolg hat die geschlossene Front aus einheimischen Umweltschützern, ansiedlungswilligen Gewerbetreibenden und protestbriefschreibenden Kommunalpolitikern im Kampf für die Südwest- und gegen die Nordautobahn allerdings schon zu verzeichnen. Das Argument der angeblich höheren Kosten der längeren Südwesttrasse, das höhere Gründungskosten für eine Saale-Brücke und die Überwindung der Buna-Halde bei der Nordvariante sowieso außer Betracht läßt, wurde bei der Bewilligung von Geldern für eine erste Vorschalt-Umweltuntersuchung erstmals beiseite geschoben: Sowohl die Nord- als auch die Südvariante werden nun gecheckt.
„Das kann ein Anfang von Umdenken sein“, versucht sich Heidrun Heidecke in Optimismus. Aber wenn Bürgerbeteiligung, wie im Hause Krause geplant, teilweise oder sogar ganz aus dem Planungsstadium herausgehalten werden soll, gibt es dafür nicht allzu viel Grund. Auch Merseburg könnte eines schönen Morgens aufwachen und eine Autobahn vor der Tür haben, die keiner hier wollte und die niemand wirklich braucht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen