: Die zwei Wunder von Atitlan
■ Ein Städtchen in Guatemala schaffte sich durch einen Aufstand das schikanöse Militär vom Hals/ Obwohl 15 protestantische Sekten um die Seelen der Mayas in Atitlan buhlen, machen die Evangelikalen einheitlich Politik/ VON JO VAN DER SPEK
Es ist abend in Santiago Atitlan, die Frauen holen noch schnell was für den Feiertag ein, die Kinder werden hereingerufen. Bald wird es Nacht, möglicherweise fällt der Strom wieder aus, und da ist es nicht ratsam, auf der Straße zu sein. Fünf Männer betreten eine Kneipe in der Hauptstraße und verlangen Alkohol. Sie sind in Zivil und keine Unbekannten: der Kommandant, ein Leutnant und drei Soldaten aus dem Militärcamp von Panabaj, zwei Kilometer weiter. Nach einer Stunde und einigem Schnaps ziehen sie weiter, zu Lucky, einem kleinen Imbiß. Der Wirt will ihnen keinen Alkohol mehr geben. Daraufhin werden sie handgreiflich. Zurück auf der Straße bedrohen sie die wenigen Passanten mit ihren Waffen.
Um halb zehn stehen sie erneut vor Luckys Türe. Doch der hat kurzerhand seinen Laden geschlossen. Sie rufen „Polizei, aufmachen“, treten gegen die Tür und ballern in die Luft, aber das Lokal bleibt geschlossen. Daraufhin ziehen die fünf betrunkenen Soldaten ab. Gut eine Dreiviertelstunde später pochen sie gegen die Tür von Andres Sapalu Ajuchan, dem Fischhändler. Andres und seine Familie fangen sofort laut zu schreien an — woraufhin die fünf schnell verschwinden, denn schon erscheinen die ersten Nachbarn auf der Straße. So war's auch verabredet: Die Nachbarn haben versprochen, sich die Bande von Dieben, die in letzter Zeit unter dem Schutz von Militär und Polizei die Gegend unsicher macht, gemeinsam vom Leibe zu halten. Die Empörung ist groß, als die Leute feststellen, daß es sich bei den Dieben um Soldaten handelt. Jemand wirft einen Stein und trifft einen der Soldaten im Gesicht. Der greift nach seiner Waffe und schießt einem Jungen ins Bein. Anschließend entkommen die fünf ins benachbarte Camp.
Seit elf Jahren ist das Militär in der Stadt stationiert. Mit Raub, Mord und Vergewaltigung schüchtern die Soldaten die 40.000 Bewohner von Santiago Atitlan ein. Doch nun, um halb elf in dieser Nacht zum 2. Dezember, geschieht, was man all die Jahre nicht für möglich gehalten hat: Die Atitlecos proben den Aufstand. Polizei und Bürgermeister, alle müssen sie aufstehen. Jemand öffnet die Kirche, und eine Stunde lang läuten die Glocken — das Signal für Tausende Indios, zum Kirchplatz zu strömen. Glocken in der Nacht, das heißt, daß die Kirche brennt oder der Priester ermordet wurde — was nicht das erste Mal wäre. Manche bringen Schlagstöcke mit, andere Macheten. Die Menschen sind blind vor Wut. Viele wollen sofort zum Camp, um eine Erklärung zu verlangen. Der Bürgermeister schlägt vor, bis zum nächsten Tag zu warten. „Nein, jetzt sofort“, schreien die Leute und drohen dem Würdenträger, ihn auf der Stelle abzusetzen, wenn er sich nicht an die Spitze des Zuges stellt. Unter der Bedingung, daß die Stöcke und Macheten gegen weiße Fahnen eingetauscht werden, erklärt sich der Bürgermeister einverstanden. Drei- bis viertausend Frauen, Männer und Kinder machen sich bei Mondlicht auf den Weg, immer am Ufer des Atitlan-Sees entlang. „Weg mit der Armee, es lebe ein freies Atitlan“, skandieren sie, und „Wir wollen endlich Frieden“. Beim Wachposten angekommen werden sie von einem Soldaten ermahnt, umzukehren. Die Menge steht schweigend da. Unschlüssig. Der Bürgermeister erklärt dem Posten, daß man in Frieden komme — um zu reden. Plötzlich wird geschossen, Maschinengewehre rattern, minutenlang. Die Menge flüchtet panikartig, aber drei Dutzend Dorfbewohner bleiben zurück: Das Blutbad von Atitlan fordert 13 Tote und 22 Verwundete.
Als erster wird der Kommissar für die Einhaltung der Menschenrechte aus seinem Bett geklingelt. Nur wenige Stunden später trifft Don Ramiro de Leon Carpio tatsächlich per Hubschrauber in Atitlan ein. Innerhalb kürzester Zeit haben 15.000 Atitecos Unterschrift oder Fingerabdruck unter eine Petition gesetzt, die anschließend dem Ombudsmann aus der Hauptstadt ausgehändigt wird. Drei Forderungen stellt die Bevölkerung von Atitlan: eine Untersuchung des Falles, die Aburteilung der Schuldigen und den Abzug der Armee. Innerhalb einer Woche hat De Leon Carpio seine Untersuchungen abgeschlossen und kommt zu dem Schluß, daß die Forderungen gerechtfertigt sind: Die Armee als ganze ist verantwortlich für die Morde in Santiago Atitlan.
„Es ist einzigartig in der Geschichte Guatemalas, daß eine staatliche Institution die Armee für ihre Vergehen zur Rechenschaft gezogen hat“, bestätigt er gut vier Monate später, „und das ist immerhin ein Fortschritt in diesem Land.“ Das fällt übrigens auch auf ihn zurück, denn sein Bericht über den vorangegangenen bestialischen Mord an 22 Männern ist nie veröffentlicht worden. Guatemalas Verteidigungsminister behauptet heute, daß der „Fehler eines einzelnen“ unmöglich auf die Armee als ganze zurückschlagen dürfe — auch das schon ein Fortschritt. Denn anfangs hatte es geheißen, die Soldaten hätten völlig zurecht das Feuer eröffnet, schließlich seien sie angegriffen worden. Und — wie immer — hätten sich in der Menge Guerilleros befunden. Heute räumt man ein, daß eine kleine Gruppe betrunkener Soldaten die öffentliche Ordnung gestört hat. Schon Präsident Vinicio Cerezo hatte in seinen letzten Amtstagen die Präsenz der Militärs gerechtfertigt, indem er auf die regelmäßigen gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Guerilla verwies. Dennoch kündigte er die Aufhebung des Camps an und beugte sich damit dem Sturm der Entrüstung, der sich im ganzen Land entfacht hatte.
Bereits vor dem offiziellen Abzug der Armee ist in Santiago Atitlan ein alternatives Ordnungsorgan entstanden, welches das Versprechen von Atitlan überwachen soll: Das „Komitee für Sicherheit und Fortschritt“ organisiert ab dem 17. Dezember in allen Teilen der ausgestreckten Kommune Wachdienste, die für Sicherheit und Frieden zuständig sind. Wenige Tage später, kurz vor Weihnachten, verläßt die Armee den Ort und richtet sich auf der anderen Seite des Atitlan-Sees ein.
Die Armee will den Geist der Mayas töten
Ostern, vier Monate später. Schwarze Fahnen und schwarze Schleier über den Eingangstüren der Häuser, Kreuze und Fotografien in der Kirche und am Rathaus; die unübersehbaren Anzeichen für Trauer wollen so gar nicht korrespondieren mit der spürbaren Freude und Ausgelassenheit in den Straßen. Die Erleichterung steht den Menschen geradezu ins Gesicht geschrieben. „Es ist eben nur eine Frage der Zeit. Unterschwellig ist die Angst immer noch da“, erklärt ein flämischer Ordenspriester mit 20 Jahren Tropenerfahrung auf dem Buckel. „Ein Volk kann nicht einfach ungestraft seine Armee herabwürdigen. Da sind Soldaten empfindlich. Die vergessen nicht.“
„Die Armee setzt alles daran, den Geist der Mayas zu töten.“ Manuel Sisay Sapulu ist Lehrer und Politiker in einem. Er war schon im Gespräch für den Posten des Bürgermeisters. Nun aber ist er der Vorsitzende des Komitees für Sicherheit und Fortschritt. Und das ist fast genau so wichtig. Er wählt seine Worte mit einer Sorgfalt, die paßt zu seiner Würde. „Wir haben es hier zu tun mit demselben Conquistador, der schon vor Jahrhunderten die Blütezeit der Maya-Kultur beendet hat. Heute, wo die Armee fort ist, greifen wir den Faden wieder auf: Arbeiten und leben in Harmonie, einander helfen, ohne Neid und ohne Zwist. Eben so, wie wir Maya früher lebten.“ Manuel Sisay unterrichtet zweisprachig: in Spanisch und Tzutuhil. Die Tzutuhil-Indios waren die ursprünglichen Bewohner von Santiago Atitlan und gaben ihm auch seinen Namen, zu dem die spanischen Eroberer ihren Schutzheiligen „Santiago“ — der Heilige Jakob — hinzufügten. „Die Nachkommen der Mayas gingen früher nicht zur Schule. Heute gehen sie, jetzt, da sie wissen, daß sie in ihrer eigenen Sprache angesprochen werden.“
Wessen Idee es nun eigentlich gewesen sei, damals mitten in der Nacht zum Camp zu gehen, frage ich den Lehrer, welcher Geist hatte sich des Volkes bemächtigt? „Das ist auch heute noch ein Rätsel“, grinst der Vorsitzende, „keiner hatte die Idee. Daß sich das Volk auf einmal wie ein Mann dazu entschloß, das war zweifellos Gottes Hand“. Jetzt, wo es erreicht ist, will sich das Komitee nicht darauf beschränken, lediglich die Ruhe zu handhaben. „Man darf nicht vergessen, daß wir zehn Jahre nachzuholen haben“, so Sisay. Und er zählt auf, was in der Kommune alles zu tun ist in Sachen Trinkwasserversorgung, Straßenbau, Schulwesen und Gesundheit. In allen Bezirken gibt es Unterkomitees.
Die gesamte Bevölkerung wurde für den Wiederaufbau mobilisiert.
De facto ist Manuel Sisay Sapulu Bürgermeister und Ortskommandant in einem — nur demokratisch gewählt ist er nicht. Die neun Mitglieder des Komitees sind von allen religiösen Organisationen gewählt worden, so der Vorsitzende. Sisay selbst repräsentiert die evangelische Kirchengemeinde Alpha und Omega. Also ein ökumenisches Komitee. Politische Komitees auf religiöser Grundlage sind in diesem Land nichts Außergewöhnliches. Schließlich ist die Kirche die wichtigste Instanz gesellschaftlicher Organisation. Aber daß sowohl die Katholiken als auch die verschiedenen protestantischen Sekten und sogar der atheistische Schatzmeister in einem Komitee zusammenarbeiten, kommt schon einem Wunder gleich. Gerade die religiösen Konflikte bildeten stets den Hauptgrund dafür, daß sich kein nennenswerter Widerstand entwickeln konnte. Die protestantischen Sekten sind US-amerikanischen Ursprungs. Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, die Bevölkerung gegen die Befreiungstheologie, gegen Kommunismus und gegen selbständiges Handeln zu erziehen — nach dem Motto: „Jesus ist der Herr, Jesus wird euch retten.“ Die unterschiedlichen Sekten — und Atitilan zählt immerhin 15 davon — liefern einander heftigst Konkurrenz; ganze Familien sind daran schon zerbrochen.
Der Schutzheilige Maximon — Zwitter aus Gut und Böse
Desto verblüffender die Tatsache, daß das Komitee von Sekten dominiert ist. Die Frage drängt sich auf, wer wen für welche Zwecke benutzt. Wird hier eine religiöse Enklave der Pfingstbewegung gegründet, ferngesteuert von einem Büro im kalifornischen San Diego? Oder haben die Mayas in Santiago Atitlan mit logistischer Unterstützung eines US-Predigers die revolutionäre Volksmacht gefestigt? Oder gar beides?
Die Osterprozession in Santiago Atitlan symbolisiert die eigenwillige Kraft der Religionen Guatemalas. Ein gutes Dutzend wild tanzender Indios trägt eine Holzpuppe durch den Ort, die Frauen in ihrer farbenreichen Tzutuhil-Tracht schleppen, in Bananenblätter eingewickelt, die heiligen Reliquien. Kleine Jungs machen einen Höllenlärm mit Ratschen, und die Kapelle spielt Marschmusik. Der Heilige dieser Osterprozession heißt Maximon; er illustriert, wie liebevoll die Nachkommen der Mayas ihre urspüngliche Naturreligion mit dem Katholizismus verknüpften. Die Priester aus dem spanischen Mutterland lernten damit zu leben, daß die „cofradias“, die religiösen Gemeinschaften, sich ihrer Heiligen annahmen und sie mit Eigenschaften und Geschenken bedachten, die ihnen nach der indianischen Tradition zustehen. Bei Maximon allerdings ist das so eine Sache. Er ist der Mam, der alte und böse Gott, der im Glauben der Maya auf einer Stufe steht mit Tzultaca, dem Gott des Guten. Da aber das Christentum keinen bösartigen Heiligen kennt, mußte einer erfunden werden. Und das wurde Judas Iskarioth — eben der mit den Silberlingen. Genau das ist auch der Grund, weshalb die Prozession nicht in der Kirche enden darf, sondern — der Kompromiß — in der Kapelle gegenüber.
Maximon und sein Gefolge sind vor der Kirche eingetroffen. Er macht eine Scheinbewegung, zwei, und noch eine. Am Fuß der hohen Treppe macht er halt, aber dreht sich schließlich doch noch um und betritt die Kapelle gegenüber. Der Träger holt ihn von seiner Schulter herunter, und die zwei lassen sich den dargebotenen Rum mit Cola schmecken. Nichts verrät das Drama, das sich hinter dieser Ausgabe der Osterprozession verbirgt: daß jener Träger nicht der richtige Träger ist, weil der vor einem Monat erschossen wurde — von maskierten Soldaten. Schlimmer noch: Auch Maximon wurde von einer Kugel getroffen, in den Kopf. Die Menge versucht einen Blick von dem Loch in Maximons Kopf zu erhaschen. Doch keine Spur von einem Loch. Das jedoch ist für einen Gläubigen kein Wunder, sondern ein Beweis — der Beweis seiner Heiligkeit und der überlegenen Überlebenskunst der Mayas. Was aber hat es auf sich mit dem fehlenden Loch? Die Lösung: Als Maximon unter Beschuß genommen wurde, trug er seinen Reservekopf. Der richtige Kopf war an einem sicheren Ort. Nur an wirklich wichtigen Feiertagen wird er hervorgeholt und der Holzpuppe auf den Rumpf gesetzt. Das Wunder von Atitlan.
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