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Ruhige Kraft, kühle Melodik

Im Alter von 64 Jahren ist Stan Getz gestorben  ■ Von Carlo Ingelfinger

Im Jahr 1964 schmeichelte sich ein unverkennbarer Sound ganz nach oben in den Hitparaden: Ein beiläufiges Summen, eine im Bossa- Nova-Rhythmus akzentuierte akustische Gitarre, die intimen, fast vibratolosen Stimmen von Joao und Astrid Gilberto und schließlich, nach geraumer Zeit, ein kraftvoll gehauchtes Tenorsaxophon in Linien voll raffinierter Schlichtheit, belebend wie eine Brise an einem Sommertag — Stan Getz begleitet das „Girl from Ipanema“ an den Strand. Die Aufnahme wurde ein Evergreen, Jazzstar Stan Getz weltweit bekannt.

Zehn Jahre zuvor, 1954, war der damals 27jährige nach eigenem Bekunden „am Ende“ gewesen. Als „Wunderkind“ der Jazzszene heroinsüchtig geworden, schluckte er nach einem erfolglosen Überfall auf einen Drugstore eine Überdosis Schlafmittel, wurde nach drei Tagen Bewußtlosigkeit im Krankenhaus gerettet und saß dann sechs Monate Knast ab. Es hätte das Ende sein können. Doch Getz kam wieder. Sein Resümee: „Ich wurde wie von einer inneren Feder getrieben, gleichsam zwanghaft nach Perfektion in der Musik zu suchen, und das — um ehrlich zu sein — auf Kosten fast aller anderen Dinge in meinem Leben.“

1927 als Sohn eines aus Rußland eingewanderten Schneiders geboren, verbrachte er seine Kindheit im New Yorker Stadtteil Bronx. 1940 schenkte ihm der Vater ein Saxophon; zu einem Klavier, das Getz junior viel lieber gehabt hätte, reichte das Geld nicht. Stan entpuppte sich als Naturtalent mit märchenhaftem Gehör und musikalischer Phantasie. Der Halbwüchsige riß von Zuhause aus und arbeitete in der ausgehenden Swing-Ära in schnellem Wechsel in mehreren Big Bands, darunter denen von Benny Goodman und Jack Teagarden. 1946 machte er erste Quartett-Aufnahmen unter eigenem Namen. Im Jahr darauf spielte er mit drei anderen Tenorsaxophonisten, einem Trompeter und einer Rhythmusgruppe Arrangements von Gene Roland und Jimmy Giuffre. Woody Herman krallte sich drei der Tenoristen für die Neuauflage seiner Big Band, fügte das Baritonhorn von Serge Chaloff hinzu, und der legendäre „Four-Brothers-Sound“ machte Jazzgeschichte. Als Mitglied von Hermans „Herd“ wurde Getz mit einem einzigen Solo beim Jazzpublikum zum Star: Über einem harmonisch reichen Arrangement der melancholischen Ballade Early Autumn spielte er mit unwahrscheinlicher Abgeklärtheit und Reife.

Getz kam in Ton und Spielauffassung direkt von Lester Young. Wie selbstverständlich integrierte er Harmonien und Improvisationstechniken des Bebop in sein souveränes, gelassenes Spiel; „der melodischste Spieler auf der Jazzszene“, urteilte Dizzy Gillespie.

Meisterhaft interpretierte er Balladen, aber auch schnelle Stücke gestaltete er mit ruhiger Kraft. Sein singender Ton voll verhaltener Wärme konnte auch Härte und Schärfe gewinnen. Dies ist insbesondere zu hören in den Jazz At The Philharmonic- Konzerten, Sessions mit Dizzy Gillespie, Duetten mit dem Baritonsaxophonisten Gerry Mulligan, bei denen die beiden auch mal ihre Instrumente tauschten (alle aus den fünfziger Jahren) und späteren Live-Aufnahmen. 1962 verschmolz er zusammen mit dem Gitarristen Charlie Byrd als erster Cool Jazz und Bossa Nova zum „Jazz Samba“ und löste damit eine in immer seichteren Gefilden verebbende Modewelle aus. In seinen Quartetten beschäftigte Getz hervorragende Pianisten wie Al Haig, Horace Silver, Chick Corea und Joanne Brackeen. Ein ganzes Album widmete er Jimmy Rowles (The Peacocks), 1983 nahm er unter dem programmatischen Plattentitel Poetry Duette mit Albert Dailey auf. Die zunehmenden gesundheitlichen Schwierigkeiten beeinträchtigten nie den durchgängig hohen Standard seiner Musik: Das 1987 im Kopenhagener „Montmartre“ eingespielte Live-Album Anniversary wählten mehrere Jazz-Zeitschriften 1989 zur Platte des Jahres. Unter dem Titel Serenity sind erst vor einigen Wochen weitere Ausschnitte aus diesem Konzert erschienen.

Getz hat sein Image vom makellosen Cool-Stilisten und gefälligen Jazz-Samba-Star immer wieder durchbrochen. So entstand 1961 eine der wenigen, musikalisch überzeugend geglückten Kombinationen zwischen Jazz-Solistik und Streichorchester. Zu den von Eddie Sauter komponierten und arrangierten sieben Stücken fügte Getz Spontanimprovisationen, die sich mal tief mit dem Streicherklang verwoben, um ihn dann wieder aufregend zu kontrastieren. Focus ist ein rarer Geniestreich. Ambitioniert und abwechslungsreich ist das von Francy Boland arrangierten Change of Scenes-Album mit der Clarke-Boland-Big- Band 1971.

Stan Getz war berühmt, erfolgreich, gutverdienend, ohne Abstriche von musikalischer Qualität und eigenen Ansprüchen machen zu müssen: eine Seltenheit im modernen Jazz.

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