Im Flüchtlingslager herrscht das Faustrecht

Explosive Lage bei den albanischen Flüchtlingen in Italien/Termin für die politische Entscheidung über die Asylanträge auf den Hochsommer verschoben/Carabinieri geben interne Infos weiter und helfen bei der Suche nach illegalen Unterkünften  ■ Aus Bari Werner Raith

„Bei den Gutwilligen“, sagt Pater Carmine nach einem Gottesdienst, der angesichts der Armeezelte eher einer Feldmesse ähnelt, „schwankt die Stimmung zwischen schierer Verzweiflung und revolutionärer Wut; die weniger Gutwilligen, und das ist noch schlimmer, sehen durch die Ereignisse hier ihren eigenen miesen Charakter geradezu als Gnade Gottes an, ohne die in diesem Camp des Faustrechts niemand überleben kann.“ Krestan, 28, gebürtig aus dem Industrieort Qyteti Stalin, bringt die Sache auf einen griffigeren Nenner: „Hier bescheißt einfach jeder jeden.“ Er schwingt eine aufgeplatzte Tränengasgranate in der Hand — Überbleibsel aus den Kämpfen des vergangenen Wochenendes, als die Polizei angeblich gegen eine der fast alltäglichen Schlägereien einschreiten mußte, nach Ansicht der Lagerbewohner jedoch „ohne Grund die schon unter uns bereinigte Situation wieder angeheizt hat“. Unstrittig sind die zwei Dutzend Verletzten, gut die Hälfte von ihnen Opfer der beim Einsatz ihrer Messer nicht zimperlichen Albaner, den Rest besorgten Tränengas und Polizeiknüppel. Denunzianten-Angst geht inzwischen um — die Regierung hat angedroht, „jeden Unruhestifter sofort abzuschieben“, Carabinieri setzen Prämien aus für Hinweise auf Steinewerfer oder Leute, die den Bau von Barrikaden diskutieren.

Aggressivität und Mißtrauen in den gut 70 „Campi profughi“ Italiens sind großenteils eine Folge der nun schon Monate dauernden Einkesselung — „jeder von uns weiß doch, daß man da Dinge tut, die man sonst nie und nimmer tun würde“, wie der Soziologe Luigi Manconi feststellt. Speziell, wie Zoltan, 41, aus Vlore an der „albanischen Riviera“ erkannt hat, „wenn die größten Betrüger nicht von inner-, sondern von außerhalb kommen“. Polizisten, die verfeindete Gruppen auseinanderhalten sollen, bieten nach Angaben der Albaner flüsternd „Informationen über die Pläne der gegnerischen Klüngel an“. Carabinieri geben schon mal „Hinweise, wo man ungesehen aus dem Lager kommt und wo einen Helfer für eine dauerhafte, wenn auch illegale Unterbringung erwarten“. „Und alles, alles nur gegen bar“ — leicht gesagt bei den gerade mal 20.000 Lire (28 D-Mark) Tagegeld pro Kopf.

Der Abgeordnete und ehemalige Geheimdienstgeneral Viviani hat behauptet, bei einem Großteil der Albaner handle es sich sowieso um Gesindel, ja sogar um Schwerkriminelle, die die Regierung Albaniens loswerden wollte. Das halten die meisten Lagerbewohner für eine reine „Entlastungskampagne zur Ablenklung vom verantwortungslosen Verhalten der italienischen Behörden“ (so ein Flugblatt in San Marco bei Bari). Ähnliche Ansichten vertreten auch Außenstehende wie Don Carmine, und, wenngleich diplomatisch umwunden, der Präfekt Apuliens: „Leider sind hier noch immer an die 8.000 der insgesamt 25.000 seit Jahresbeginn eingetroffenen Flüchtlinge konzentriert, obwohl es seit März einen genauen Verteilungsplan für alle 20 Regionen Italiens gibt, und obwohl klar ist, daß das strukturell schwache Apulien solche Massen einfach nicht aufnehmen kann.“ Zudem kommen tagtäglich noch weitere 50 bis 100 neue Flüchtlinge hinzu: „Die benutzen jetzt keine Großdampfer mehr, weil wir die auf hoher See abfangen würden, jetzt tuckern sie mit Kuttern rüber.“

Auf den ersten Blick ist das übliche bürokratische Chaos Italiens an der Nichtregelung der Zustände schuld — angeblich nicht angekommene Überführungsorders, „vergessene“ Busbestellungen, im letzten Moment als unzumutbar erkannte Unterkünfte am Zielort. Außerdem „ist es für die Flüchtlinge doch sowieso besser, wenn sie, die sich untereinander kennen, zunächst einmal nicht auseinandergerissen werden“, wie ein Beamter des im Frühjahr neugeschaffenen Immigrationsministeriums erklärt. Eine fromme Umschreibung des Willens, die Leute zu ghettoisieren und auf keinen Fall irgendwo Wurzeln schlagen zu lassen. „Es erinnert mich an Jordanien nach den Massenaustreibungen aus Israel“, sagt ein Mitglied des UNO- Hochkommissariats für Flüchtlingsfragen entnervt nach seinem Besuch in den „Brennpunkten“ der Zeltstädte: „Doch mit so etwas schafft man explosive Situationen — nicht nur Wut gegen das Regime, dem man entkommen ist, sondern auch gegen das Land, das einen aufnimmt und doch draußen hält.“

Da hat er sicher Recht. Mittlerweile beginnen die Flüchtlinge zu durchschauen, was hinter der von ihnen zunächst positiv interpretierten Langsamkeit steckt („je länger wir hier sind, umso schwerer tun sie sich mit der Ausweisung“, war bisher die Parole): Offenbar will die italienische Regierung Zeit bis zum Hochsommer gewinnen. Der auf den 15. Mai festgesetzte Termin für eine „definitive Antwort auf jeden einzelnen Asylantrag“, wie sie Justizminister Claudio Martelli — Schöpfer des geltenden rigiden Anti-Immigrationsgesetzes — im Februar angekündigt hatte, soll nun Zeit haben bis zum 15. Juli.

Ein solcher Termin mitten im Hochsommer, das haben die Flüchtlinge verstanden, bedeutet hierzulande meistens nur eines: daß man eine Lösung auf Knall und Fall sucht — und zwar genau zur Urlaubszeit, wo das Volk seine Füße im Meer badet und alles mag, nur nicht die Beschäftigung mit bösen politischen oder humanitären Problemen. Und so wird sich die Lage weiter zuspitzen. Die nächsten Tränengasgranaten, das hat die Polizei am Samstag wissen lassen, liegen jedenfalls schon parat.