: Vom Aufbruch im Zusammenbruch
Leipzigs „Neue Szene“ stellte sich beim Heidelberger Stückemarkt vor ■ Von Jürgen Berger
Der Name der Bühne klingt programmatisch. Sieht man sich den Spielplan der „Neuen Szene“ in Leipzig an, geschieht dort in der Tat etwas: Ein Aufbruch im Zusammenbruch des früheren DDR- Theaters, in Szene gesetzt von jungen Regisseurinnen und Regisseuren. Das Publikum besucht die kleine Bühne des Leipziger Schauspiels und füllt deren 100 Sitzplätze (dasselbe gilt für das gleich große Kellertheater). Im großen Theater nebenan klaffen allerdings weiterhin Lücken im 700 Personen fassenden Zuschauerraum.
Im Rahmen des Heidelberger Stückemarktes präsentierte sich jetzt die „Neue Szene“ Leipzig an derselben Stelle, wo man letztes Jahr — noch vor der Währungsunion — eine Bestandsaufnahme des Theaters in Deutschland (Ost) organisiert hatte. Schon damals war das Schauspiel der Heldenstadt mit sehenswerten Inszenierungen vertreten, in der Folge entwickelte sich zwischen den doch unterschiedlich großen Theatern eine Partnerschaft. Heidelbergs Intendant, Peter Stoltzenberg, meint, ihm sei an einem Austausch von Stücken und Regisseuren gelegen, weil sich in Leipzig schon sehr früh gezeigt habe, daß man sich nicht hinter My Fair Lady verstecke, um zu überleben.
Leipzig ist in Bewegung geraten. Mit der jungen Choreographin Irina Pauls und ihren fünf Tänzerinnen/ Tänzern etablierte man das erste feste Tanztheater in den neuen Bundesländern, ein Signal angesichts der immensen Finanznöte. Man will wagemutig an die Zuschauer ran, was mit Irina Pauls' Einstand, dem Happy Schwanensee Day, gleich gelang. Prinz Sigmunds Geschichte lockt als phantasievolle Slapstick- Choreographie nach Tschaikowski und Woody Allen, obwohl (oder weil) Irina Pauls tanzästhetisch eher weniger riskiert. Als Heidelbergs Choreographin Liz King mit Hearts Reason in Leipzig war, stieß deren kühle Choreographie beim Publikum auf Unverständnis. Irina Pauls macht sich darum trotz des Erfolgs Sorgen um ihr Tanztheater-Experiment, denn innerhalb des Schauspielensembles gibt es starke Widerstände: „Ich stehe unter starkem Erfolgsdruck, weil vor allem altgediente Schauspieler uns als Konkurrenz sehen und Angst um ihre Verträge haben. Viele von ihnen haben noch gar nicht begriffen, welche strukturellen Veränderungen sich derzeit an unseren Theatern vollziehen.“
Intendant Wolfgang Hauswald steht jedoch zum Tanztheater; die Stadt denkt allerdings gerade darüber nach, mehrere Millionen im Personaletat einzusparen, was Stellenstreichungen für das Theater bedeuten würde. Demnächst wird auch in den Theatern aus „Kurzarbeit Null“ real existierende Arbeitslosigkeit. Was das für das Schauspiel Leipzig bedeutet, dem das Tanztheater angegliedert ist, bleibt abzuwarten.
Versorgungsmentalität
Regisseurin Konstanze Lauterbach hat sich gerade für die nächsten drei Spielzeiten fest an das Schauspiel gebunden. Mit Leander Haußmann zählt Konstanze Lauterbach zu den auch von Westtheatern umworbenen jungen Inszenatoren aus der ehemaligen DDR. In die „Neue Szene“ führte sie sich mit Turrinis Rozznjagd ein; eine feinfühlige Inszenierung, in der Ute Loeck und Jochen Noch zwischen entspannt kindlichem Spiel und aggressiven Schüben changieren. Wie es mit den Zuschauerzahlen weitergehen wird, hängt davon ab, wie man inszeniert, meint Konstanze Lauterbach. Und: „Je mehr Tumult im Zuschauerraum, desto besser“. In Leipzig geht es für sie mit Bronnens Vatermord und Vians Abdeckerei für alle weiter.
Schauspieler Jochen Noch spricht davon, daß ihm die Beamten-Versorgungsmentalität in einem Teil des Leipziger Ensembles — nicht nur bei älteren Schauspielern — an die Nieren gehe. Bleiben will er dennoch, weil die Arbeit mit den jungen Regisseuren lohne: „Ich hoffe, daß sich das Verständnis von Theaterarbeit, das Konstanze Lauterbach und Lutz Graf nach Leipzig gebracht haben, durchsetzen wird.“ Lutz Graf kam mit Achternbuschs Ella zum Stückemarkt und hat den Monolog des Josef in Richtung der TV-starrenden Ella als ein Anrennen gegen die mütterliche Schweigemauer inszeniert. Eines hat seine Arbeit mit Konstanze Lauterbachs Rozznjagd gemeinsam: Beiden Inszenierungen geht es in erster Linie um die Tiefenstruktur der Figuren. Lutz Graf hat gerade Marivauxs Das Spiel von Liebe und Zufall inszeniert und wurde damit zu den Schwetzinger Festspielen eingeladen, ein paar Kilometer von Heidelberg entfernt.
Derzeit kommissarischer Leiter des Leipziger Schauspiels ist Dietrich Kunze, der letztes Jahr Stefan Schützs Der Hahn zur DDR-Erstaufführung brachte — wie es damals noch hieß. Das Stück wird man wohl kaum noch sehen können, die Inszenierung setzt auf Unterhaltung. Ob auch das ausschlaggebend dafür ist, daß die „Neue Szene“ angenommen wird? Sicher ist, daß dem Theater in der Messestadt ein begeisterungsfähiges und zum Teil studentisches Publikum zuwächst, das Eperimentierfreude honoriert. Ein Blick auf den Spielplan: Da ist Jo Fabian mit Shite Samurai vertreten, dem es etwas abseits des Sprechtheaters um streng formale Bewegungsinszenierungen geht. Ende des Monats wird Gertrude Steins Geburtstagsbuch in der Inszenierung von Bonnie S. Showers Premiere haben. In Heidelberg waren die Leipziger Vorstellungen ausverkauft, während zuvor selbst der Basler Korbes für Stückemarkt-Verhältnisse dünn besucht war.
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