: Traumschiff und Endstation
Im Hamburger Hafen hat das Wohnschiff „Bibby Endeavour“ festgemacht, um Aussiedlern, Asylbewerbern und Obdachlosen eine vorübergehende Bleibe zu bieten. ■ Von Ute Jurkovics
Ein Trampelpfad über leere Bahngleise, vorbei an einer Lagerhalle und ein paar ungenutzten Schuppen, führt zur Kaimauer am Ufer der Elbe, dorthin, wo die Flüchtlinge wohnen. Drei Schiffe haben hier — am Ende des Hamburger Fischereihafens — festgemacht. Sie wurden von der Sozialbehörde gechartert, um Aussiedlern und Asylbewerbern eine vorläufige Unterkunft zu bieten. Eines dieser Wohnschiffe ist die „Bibby Endeavour“, ein grauer aus Stahlcontainern zusammengeschweißter Koloß, dessen Konturen sich kaum von der bizarren und fast menschenleeren Industriegegend ringsum unterscheiden.
Der überdimensionale Ponton sieht alles andere als einladend aus. Einige der Kabinenfenster stehen offen und hängen schief an der Bordwand herunter. In der grau-braunen Elbbrühe zwischen Schiff und Kaimauer dümpeln leere Flaschen, Apfelsinenschalen und Einwegverpackungen. Und überall blau-weiß gestreifte Plastiktüten: Sie hängen als Kühltaschen an den Fenstern, schwimmen in der Elbe und quellen aus den Müllcontainern vor dem Schiff hervor. Man weiß sofort, welche Billig-Lebensmittelkette das Geschäft mit den Flüchtlingen macht.
Das beklemmende Gefühl, das die eiserne Wohnburg von außen erweckt, läßt nach, als ich auf Dieter Nordhen treffe, Unterkunftsleiter auf der „Bibby Endeavour“. Sein Büro ist Anlaufstelle für alle Neuankömmlinge. Er telefoniert. „Auf der Bahnhofsmission stapeln sich die Russen“, erklärt er dann und grinst dabei. Wie viele kommen werden? Das wisse niemand genau.
Dieter Nordhen ist zusammen mit neun Betriebshelfern für die Instandhaltung des Wohnschiffes verantwortlich. Er führt mich in den Fernsehraum nebenan. Ein Plastikgerippe mit ein paar heraushängenden Kabeln und Drähten, das ist alles, was von dem TV-Gerät übriggeblieben ist. Deshalb wird der Gemeinschaftsraum, der einzige auf dem Schiff, jetzt abends immer abgeschlossen. Dieter Nordhen erklärt diese Maßnahme gelassen. Gelassen weist er auch darauf hin, daß die demolierten Feuerlöscher auf den Fluren ständig erneuert und die Abfallhaufen in den Ecken beseitigt werden. „Wir versuchen immer wieder, mit den Leuten zu sprechen“, sagt er in seiner ruhigen Art, „im Dreck ersticken lassen, das nützt doch nichts.“ Ich darf mich umsehen auf dem Schiff. Nur wenige Bewohner sind an Bord. Die albanischen Flüchtlinge nehmen an einem Sprachkurs teil. Die Aussiedler aus Polen und der Sowjetunion erledigen Behördengänge oder haben sich in ihre Kabinen zurückgezogen. Nur die fensterlosen Toiletten- und Duschräume stehen offen und geben den Blick auf aneinandergereihte, von hartem Neonlicht beleuchtete Waschbecken frei. Sofort stellt sich das beklemmende Gefühl wieder ein. Kann man es hier längere Zeit aushalten, ohne Depressionen zu bekommen?
Gegen Abend füllt sich das Schiff. Kinder turnen auf den symmetrisch angelegten Treppen und Gängen herum. Eine Gruppe albanischer Männer steht am Eingang. Sie unterhalten sich, rauchen und beobachten die einheimischen Obdachlosen, die ab 17 Uhr zum Übernachten einchecken dürfen. Die Berber kommen meistens allein. Wortlos stapfen sie die Treppe zum Schlafsaal hinunter, um sich ihr Lager auf einer der in Plastikfolie verpackten Matratzen zu bereiten. Einige von ihnen sind höchstens zwanzig Jahre alt.
„Deutschland ist gut“
Was denken albanische Flüchtlinge, wenn sie deutsche Obdachlose sehen? „Das sind Deutsche, die ihr Geld vertrinken“, erklärt einer aus der Gruppe am Eingang, ohne zu zögern, „die sind selbst schuld, daß sie in dieser Situation sind.“ „Deutschland ist gut“, setzt er noch hinzu, während seine Landsleute den Kopf schütteln, was in Albanien Zustimmung bedeutet. Deutschland ist gut. Auch von Eduard Mema, 31 Jahre alt, höre ich diesen stereotypen Satz. Der Albaner hat Glück gehabt. Er bewohnt die Kabine 375A auf Deck3 allein und lädt mich zu einem Kaffee dorthin ein. Drei Garderobenhaken, ein zweitüriger Wandschrank, ein Tisch und zwei Stühle gehören zum tristen Inventar. Das Doppelbett nimmt fast die Hälfte des acht Quadratmeter großen Raumes ein. Unter dem Tisch sind eine Kochplatte, zwei Töpfe und ein Paket Waschpulver verstaut, darüber, auf einem Regal, stehen Lebensmittel: Margarine, Salz und eine Papptüte mit Wein.
„Was ist gut an Deutschland“, will ich von Eduard Mema wissen. Er antwortet, ohne zu überlegen: „Die Freiheit, die hier ist, die Freiheit, seine Meinung zu sagen und zu arbeiten.“ Hm. Ich frage mich, ob er selbst an das, was er sagt, glaubt. Das Gesicht des Autoschlossers bleibt unergründlich. Er mag kaum zugeben, daß es ihm manchmal auch schlecht geht, daß er Heimweh hat. „Man braucht nicht zu jammern“, sagt er fast trotzig. „Wir haben zu Essen, Unterkunft, Sprachkurs und Jeans. Alles andere kommt mit der Zeit.“
Dieses Vertrauen, der Glaube an die unbegrenzten Konsummöglichkeiten im Westen, scheint auch der Schlüssel für die Ausreisefreudigkeit der Zuwanderer aus den ehemaligen Ostblockländern zu sein. Daß es in der Bundesrepublik Obdachlosigkeit und Wohnungsnot gibt, davon wissen sie nichts. Und sie ahnen auch nicht, daß ein Schwesterschiff der „Bibby-Endeavour“ in New York als Gefängnis vor Anker liegt.
Auch Irma Leonidowna Buehmiller aus Kasachstan, 36 Jahre alt, hofft, schnell eine neue Bleibe für sich und ihre Familie zu finden. Vorläufig ist es eine Vierer-Kabine auf Deck3. Ich darf eintreten und bekomme Tee serviert.
„Aber hier gibt es alles!“
Irma Leonidowna Buehmiller ist eine energische Frau. Sie scheucht ihren Ehemann hoch, der lang ausgestreckt in der Koje liegt, wäscht Tassen ab und bietet Gebäck an. Wir sitzen auf den Betten, denn der Raum, in dem auch noch der neunjährige Sohn Waldemar wohnt, ist schon für drei Personen zu klein. Doch Buehmillers sind gastfreundlich. Als andere Schiffsbewohner vorbeischauen, wird auf den Matratzen zusammengerückt. Wenig später steht auch Wodka auf dem Tisch.
Gesprächsthema ist die Armut in der Sowjetunion. „Es ging uns nicht schlecht, aber es gab keine Schuhe“, sagt die Gastgeberin. „Aber hier gibt es alles“, freut sie sich und zählt auf: „Fleisch, Milch, Brot, Limonade, Mineralwasser, Schnaps und Wein.“ Nur der Tee schmeckt ihr in Deutschland nicht.
Auch die anderen sind von den Warenangeboten begeistert, fragen sich, wie diese Fülle möglich ist. „Soviel Stickgarn hab' ich im Laden gesehen“, staunt auch die Rentnerin Lydia Goldade, „das hab' ich zu Hause immer nur aus alten Tüchern rausgerupft.“
Ihr Mann aber hat Angst, daß dieser Überfluß eines Tages versiegen könnte. Mißtrauisch fragt er mich nach den Asylbewerbern aus Afrika, die er hin und wieder auf der „Bibby Endeavour“ oder vor den Nachbarschiffen gesehen hat. „Wo kommen denn die Schwarzen alle her, das sind doch keine Deutschen“, will er wissen und kann nicht verbergen, daß er Angst hat, zu kurz zu kommen. „So viele sind gekommen, alle kriegen Essen, Deutschland ist doch kein Sack, der kein Ende hat.“
Lydia und Edmund Goldade sind bescheidene Leute. „Wir holen uns abends immer nur ein Essen ab“, erzählt die 68jährige rüstige Rentnerin und streicht dabei die Taschen ihrer Kittelschürze glatt, „das reicht für uns beide.“ Ihr zehn Jahre älterer Ehemann, dessen Goldzähne blitzen, wenn er spricht, blättert in einer alten Tageszeitung. Ich biete ihm die aktuelle Ausgabe an, aber seine Frau lehnt dankend ab. „Am Wochenende sind wir beim Sohn, da lesen wir, das ist genug für eine Woche.“
„Wir haben im Russendorf gewohnt in der Ukraine. Papa hat uns in der deutschen Schule abgegeben“, erinnert sich Lydia Goldade an ihre Jugend. Sie war 23 Jahre alt, als die Vertreibung der Wolga-Deutschen begann. „Wir hatten schon die Kuh im Keller und alles für den Winter fertiggemacht, aber man hat uns gezwungen, alles zu verlassen.“ In der Steppenlandschaft von Nordkasachstan mußte die Familie noch einmal ganz von vorn anfangen.
Edmund Goldade fällt es sichtlich schwer, ruhig zu bleiben, wenn er an die eineinhalb Jahre denkt, die er während des Zweiten Weltkrieges in der „Trut-Armee“ dienen mußte. Der Hobbymaler zeigt mir eins seiner Bilder, das von den harten Lebensbedingungen in diesem Arbeitsheer erzählt: Ein grauer Himmel, Stacheldraht, Männer, die Bäume fällen.
Er redet schnell, verliert oft den Faden und stößt, während er spricht, immer wieder mit dem Kopf an der Kante des oberen Teils des Doppelstockbettes an. Er merkt es in der Erregung nicht, die sich noch steigert, wenn er an die heutige Situation in der Sowjetunion denkt: „Keine Verantwortung ist nirgends nicht“, schimpft er. „So viele angestellte Fresser, die nur Papier von einer Stelle zur anderen legen. Mitfresser, Schmarotzer, 50 Prozent müßten fliegen.“
So verhaßt das System in der Sowjetunion bei den deutschstämmigen Aussiedlern ist, so wohlwollend stehen sie der Bundesrepublik gegenüber, obwohl sie ihre neue Heimat fast nur vom Hörensagen kennen. Sich hier einzugliedern, ein unauffälliges Leben zu führen, ist das Ziel ihrer Wünsche.
„Daß wir Arbeit finden, eine Wohnung bekommen, und der Sohn in die Schule geht und vielleicht irgendwann eine Reise nach Venedig“, das ist es, was sich Irma Buehmiller von der Zukunft erhofft. Und Lydia Goldade hat fast identische Träume: „Eine Wohnung, in der mein Mann malen kann, und daß die Kinder noch hierherkommen könnten, und die Enkel aufwachsen wie deutsche Leute.“
Zwei Tage später schon sind die Rentnerleute Goldade nicht mehr da. „Die haben eine Wohnung bekommen, ganz im Norden von Hamburg“, weiß eine Flurnachbarin.
Der Westen am Ende als Sackgasse?
So schnell klappt es mit der Anerkennung von Aussiedlern als deutschstämmige Vertriebene nicht immer. Für die vierköpfige Familie Kosiorkiewicz aus Polen zum Beispiel könnte die Unterkunft auf der „Bibby Endeavour“ nicht nur zur Endstation in Deutschland, sondern auch zum Abschiebebahnhof werden. Ihre Reise ins bessere Leben im Westen hat sich als Sackgasse entpuppt, denn die Behörden erkennen die Dokumente der Familie nicht an.
Jerzy Kosiorkiewicz sucht Rat bei einer der auf dem Schiff beschäftigten Sozialarbeiterinnen. „Eine Angestellte beim Hamburger Ausgleichsamt“, empört er sich, „hat meinen Antrag für einen Vertriebenenausweis einfach zerrissen.“ Der Familienvater, der in Polen als Tankwart in einer Fleischfabrik gearbeitet hat, fühlt sich gefoppt. „Wir sind doch Deutsche“, beteuert er verzweifelt, „meine Familie hat die deutsche Kultur bis zum Zweiten Weltkrieg bewahrt.“ Er sagt es auf polnisch. Ein Dolmetscher muß jedes Wort übersetzen.
Das bittere Los einer Abschiebung könnte auch die Roma-Familie Cirpaci treffen. Die Rumänen sind Asylbewerber und müssen nachweisen, daß sie in ihrer Heimat politisch verfolgt worden sind. Gelingt ihnen das nicht, besteht keine Aussicht auf Anerkennung als Flüchtlinge und sie müssen die Bundesrepublik wieder verlassen. Iliana und Stefan Cirpaci bewohnen mit ihren beiden ein- und eindreivierteljährigen Kindern eine Kabine ganz am hinteren Ende des Flurs auf Deck3. Auf mein Klopfen kommt Iliana Cirpaci heraus. Sie schließt die Tür wieder. Dahinter schlafen die Kinder. Die Rumänin ist hochschwanger, und sie spricht kein Wort deutsch. Mit Händen und Füßen versuche ich ihr zu erklären, daß ich mit ihr sprechen und am nächsten Tag mit einem Dolmetscher wiederkommen möchte. Sie ist einverstanden.
Von den 60 rumänischen Roma- Angehörigen, die im vergangenen Sommer die „Bibby Endeavour“ bevölkerten, sind die vier die letzte Familie, die in Hamburg geblieben ist. Ihre Landsleute wurden, gemäß der Quotenregelung für Asylbewerber, auf andere Bundesländer verteilt. Für die Roma, die es gewohnt sind, mit ihrer Sippe zusammenzuleben, ist das ein großes Problem. „Wir sind hier mutterseelenallein“, sagt Stefan Cirpaci, der sich zum verabredeten Termin ebenfalls eingefunden hat. Die Albaner in den Kabinen gegenüber grüßen nicht einmal, und da niemand auf dem Schiff rumänisch spricht, gebe es auch keine anderen Kontakte. Stefan Cirpaci ist 21, seine Frau 19 Jahre alt. Seit dem 4.August 1990, dem Tag ihrer Einreise, wohnen sie auf dem schwimmenden Koloß. Sie haben versucht, die spartanische Kabine ein bißchen wohnlich zu gestalten. Auf dem Fußboden und auf den Betten liegen Teppichflicken. An der Wand hängt ein billiger Abreißkalender, darunter ist der Kinderwagen geparkt. Von einem alten Fernseher, Marke Flohmarkt, blicken ein paar grellbunte Plüschtiere und ein Gartenzwerg auf das ärmliche Idyll herunter. Unter dem Tisch steht eine Blechschüssel mit kalten Pommes-Frites. Sie hätten sich noch nicht an das Essen hier gewöhnen können, erklärt Stefan Cirpaci, der meinen Blick bemerkt hat, entschuldigend. Denn Kochen ist auf der „Bibby Endeavour“ verboten.
„Warum können wir nicht in eine richtige Wohnung ziehen?“ „Warum dürfen wir uns nicht selbst verpflegen?“ „Warum bekommen wir nicht mehr Geld?“ Stefan Cirpaci schießt all diese Fragen auf einmal ab. Er kann nicht verstehen, daß er auf der „Bibby Endeavour“ gelandet ist, wo nichts, aber auch gar nichts seinen Vorstellungen entspricht. Verwandte hätten ihm zu Hause erzählt, wieviel besser das Leben in „Germany“ ist. Deshalb, und weil das Leben im heimatlichen Bauerndorf elend war, habe er Rumänien verlassen. Stefan Cirpaci weiß nichts von dem Arbeitsverbot, das für Asylbewerber in der Bundesrepublik gilt. Die Naivität des jungen Paares ist groß. Je mehr die Verzweiflung der beiden über die ausweglose Situation auf der „Bibby Endeavour“ wächst, desto stärker klammern sie sich an den Glauben, daß jeder etwas von dem vorhandenen Reichtum abbekommen kann. Wenn nicht heute, dann morgen. „Deutschland ist gut“, auch Stefan Cirpaci hält mir dieses Klischee entgegen.
„Die Ausländer haben es doch gut.“
Als ich die vier verlasse, ist mir klar, daß das Bild, das sich Stefan und Iliana Cirpaci von der Bundesrepublik machen, durch nichts zu erschüttern ist. Erst wenn sie abgeschoben werden, werden sie realisieren, daß nicht jeder willkommen ist, daß Wohlstand den Privilegierten vorbehalten bleibt. Vielleicht haben sie Glück und bekommen Asyl, aber andere Flüchtlinge, die ebenfalls der Ruf der Bundesrepublik als starkes und reiches Land hergelockt hat, werden diese schlimme Erfahrung machen.
Auf der Gangway vor der „Bibby Endeavour“ treffe ich einen der Obdachlosen. Einen älteren schmächtigen Mann mit schütterem Haar. Er ist froh, daß der Schlafsaal für die Berber jetzt geöffnet ist und er sich hinlegen kann, denn draußen ist es kalt. „Die Ausländer haben's gut“, sagt er, „dürfen den ganzen Tag auf dem Schiff bleiben. Die haben alles, warmes Essen, Bettwäsche, die haben Freiheit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen