piwik no script img

Wahlboykott in den Slums von Bombay

■ In den Armenvierteln der indischen Hafenmetropole schließen sich Tausende von Obdachlosen, Prostituierten und Kleinhändlern in Selbsthilfeorganisationen zusammen

Von Sheila Mysorekar

Wie seltene Zugvögel tauchen sie auf — Politiker sind in den indischen Slums ungewöhnliche Gäste. Aber alle fünf Jahre kommen sie mit Sicherheit: Zum Wahlkampf nämlich, denn WählerInnen gibt es in den Slums massenweise. Da es den Menschen am Nötigsten fehlt, kann man ihnen auch schnell etwas versprechen und dann Stimmen einheimsen. Nach der Wahl verschwindet der Politiker wieder und wird bis zur nächsten Wahl nicht mehr gesehen. Von den versprochenen Verbesserungen ganz zu schweigen.

Das haben die Armen in Indiens Großstädten inzwischen durchschaut. In Bombays Rotlichtviertel Kamatipure haben Obdachlose und SlumbewohnerInnen jetzt beschlossen, die Wahlen zu boykottieren. Sie haben ein Neunpunkteprogramm an alle Parteien des Wahlkreises verteilt, in dem sie unter anderem eine schriftliche Zusicherung fordern, daß SlumbewohnerInnen in Zukunft an einer Art Runder-Tisch-Gespräche beteiligt werden. „Wir leben unter unmenschlichen Bedingungen, aber alles, was wir bekommen, sind leere Versprechungen. Wir fühlen uns als Stimmvieh mißbraucht“, heißt es in dem Aufruf.

Die Menschen im Kamatipure- Viertel sind gut organisiert. Und zum ersten Mal sind es auch die „Pavement dwellers“ (Gehsteig-BewohnerInnen), die den Politikern zeigen, daß sie sich der Macht ihrer Stimmen bewußt sind. Pavement dwellers gibt es in jeder Großstadt Indiens, die meisten in Kalkutta und Bombay. Allein in Bombay sind es mindestens 150.000 bis 200.000. Es sind Obdachlose, die sich auf den Gehsteigen eine Unterkunft bauen, aus Stoff, Holz oder Plastikfetzen. Meist ist es nicht mehr als ein niedriges Dach, unter dem die Familie ihre geringe Habe verstaut. Wenn es Nacht wird in Bombay, sind die Gehsteige voller schlafender Menschen — die Pavement dwellers leben, arbeiten und schlafen auf der Straße.

Juweliergeschäfte und Wellblechhütten

Samina kam vor 25 Jahren nach Bombay, vom Hunger aus ihrem Dorf vertrieben. Damals dachte sie, die Unterkunft auf der Straße sei eine vorläufige Lösung. „25 Jahre wohne ich schon auf der Straße“, erzählt die 50jährige. „Inzwischen bin ich Großmutter. Meine Kinder und Enkelkinder sind auf der Straße geboren.“ Samina wohnt in einer behelfsmäßigen Hütte im Stadtteil Ghula Naidan, nahe dem alten Zentrum Bombays. Hier sind die Häuser niedrig und alt, mit Balkonen und Holzverriegelungen im typischen Kolonialstil. In Ghula Naidan leben viele Moslems; verschleierte Frauen bestimmen das Straßenbild.

Teehäuser und traditionsreiche Juweliergeschäfte säumen eine Seite der Hauptstraße. An der Ecke steht eine türkisgrün gestrichene Moschee. Die andere Straßenseite ist eine Mauer; dicht an dicht haben dort die „StraßenbewohnerInnen“ ihre Unterkünfte aufgebaut. Samina schiebt ein Stück Wellblech beiseite — ihre Haustür. Sie wohnt mit zwölf Personen auf einer Fläche von etwa neun Quadratmetern. Kleider und sonstige Gegenstände hängen in Stoffsäcken vom Wellblechdach. „Wir Frauen schlafen drinnen, die Männer draußen“, sagt Samina.

Offizielle Stellen behaupten, die Pavement dwellers zögen unstet von Ort zu Ort und ernährten sich durch Bettelei. Tatsächlich trifft das auf die wenigsten zu; auch nicht auf Samina. Sie wohnt mit ihrer Familie seit 19 Jahren in derselben Hütte auf dem gleichen Gehsteig. Ihr Mann arbeitet in einer Fabrik, und sie verdient ihr Geld als Haushaltshilfe. „Zum ersten Mal habe ich Hoffnung auf eine bessere Zukunft für meine Kinder und Enkel. Wir haben nämlich eine Wohnbaukooperative gegründet. Und wir Frauen von der Straße und aus den Slums haben ein gemeinsames Konto“, erzählt sie und kramt ihr Kontobuch hervor. Es ist Zeit für das wöchentliche Treffen der Frauen von „Mahila Milan“.

Die Frauenorganisation „Mahila Milan“ — auf deutsch: „Frauen, die zusammenkommen“ — wurde 1986 von Frauen aus dem Rotlichtviertel Bombays und den umliegenden Straßen und Slums gegründet. Viele von ihnen waren früher Prostituierte. Als sie zu alt für diesen Beruf geworden waren, mußten sie das Bordell verlassen, und sie blieben als Pavement dwellers auf der Straße. Manche arbeiteten als Köchin oder Putzfrau in den Bordellen von Kamatipure. Bei „Mahila Milan“ kommen sie zusammen, um Lösungen für ihre Probleme zu suchen.

„Die Frauen teilen ihr Wissen“

Die Organisation entstand in Anlehnung an die — männerdominierte — „National Slum Dwellers Organi- Federation“, die schon Mitte der 70er Jahre gegründet wurde. Sozialarbeiterinnen, die in der Dachorganisation SPARC die SlumbewohnerInnen unterstützen, sahen die Notwendigkeit, den Frauen einen eigenen Raum zu gewähren. „Frauen sind die eigentlichen Multiplikatorinnen für jegliche Initiative. Sie sind am Puls der Community“, sagt Celine D'Cruz, eine junge Sozialarbeiterin bei SPARC. „Wenn wir nur die Initiativen der Männer unterstützen, nutzt das der Familie im allgemeinen wenig. Die Männer tendieren dazu, Informationen nicht weiterzugeben. Bei den Frauen ist das anders; sie teilen ihr Wissen. So kam auch Mahila Milan zustande. Aber wir sind kein Wohlfahrtsunternehmen. Wir stellen den Frauen von Mahila Milan unser Know-how im Umgang mit Behörden und unserer Infrastruktur zur Verfügung, weiter nichts. Alles andere machen sie allein.“

Die Pavement-dweller-Frauen treffen sich im SPARC-Büro im Stadtteil Ghula Naidan, nicht weit von Kamatipure. Das Büro ist eine alte Krankenhausgarage. Reisstrohmatten liegen auf dem Boden; Schreibtische gibt es nicht. Lange Listen hängen an den Wänden, auf denen eingetragen ist, wieviel Geld die Frauen aus jedem Viertel auf das Konto ihrer Wohnungsbaukooperative eingezahlt haben. „Die meisten Frauen haben früher nur ein paar Rupien in ihrer Kleidung versteckt“, erklärt Celine D'Cruz. „Gespart wurde nichts. Aber Mahila Milan hat den Frauen das Selbstbewußtsein gegeben, auf eine Bank zu gehen, ein Konto anzulegen, überhaupt mit Behörden zu verhandeln. Die Polizei, Banken, Krankenhäuser — vor all dem hatten diese Frauen früher Angst, weil es für sie die Macht repräsentierte. Jetzt haben sie gelernt, damit umzugehen und ihr neues Wissen mit den Frauen aus anderen Slums zu teilen. Bei jedem Notfall gibt ,Mahila Milan‘ den Frauen ein zinsfreies Darlehen — es ist ja ihr eigenes Geld. Und wir verhandeln mit der Regierung wegen der Zuteilung von Land. Dann kann auch das Geld von der Wohnungsbaukooperative genutzt werden.“

Shenaz ist eines der Gründungsmitglieder von „Mahila Milan“. Auch sie war früher Prostituierte; heute betreibt sie mit ihrem Mann einen kleinen Kiosk. Sie hat die Frauen in den Bordellen und in den Straßen in ihrer Gegend aktiviert, sich an „Mahila Milan“ zu beteiligen. Shenaz ist eine kleine, fröhliche, energische Frau, so um die 50 — ihr genaues Alter kennt sie nicht. Sie ist Analphabetin, aber sie hat die gesamten Finanzen von „Mahila Milan“ im Kopf. Nach jedem Treffen macht sie ihre Runde durch die Hütten und bespricht mit den Familien die finanzielle Lage. „Das größte Problem ist Wasser“, sagt sie. „Wir sind darauf angewiesen, daß uns die Leute in den Häusern ein paar Eimer voll geben. Und dann die Abwässer. Wir müssen die öffentlichen Toiletten benutzen, weil wir keine eigenen haben. Das kostet jedesmal 50 Paise. Wenn ein Kind Durchfall hat, dann macht das schon fünf bis sechs Rupien pro Tag. Das ist viel Geld für uns.“ Ein weiteres Problem sind die Bulldozer der Landesregierung von Maharashtra. Die übliche Strategie der Politiker zur Beseitigung der Gehsteigbehausungen war bisher, die Hütten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion dem Erdboden gleichzumachen, die Bewohner in Lastwagen zu verladen und außerhalb der Stadtgrenzen abzusetzen. Diese Aktionen sind illegal, waren aber dennoch häufig. 1988 ging „Mahila Milan“ wegen der Zerstörung eines Gehsteigslums vor Gericht und gewann den Prozeß. Zum ersten Mal in der Geschichte Bombays mußte die Stadtverwaltung eine Entschädigung an die Pavement dwellers zahlen. Die Frauen triumphierten. Danach gab es nie wieder einen Einsatz von Bulldozern gegen Hütten.

Jahrzehnte der Marginalisierung

„Wir haben jetzt keine Angst mehr vor der Polizei oder den Behörden“, sagt Shenaz. „Wir halten zusammen. Wenn einem Slum die Räumung droht, kommen genug Leute aus allen anderen Slums zusammen, um dies zu verhindern.“ Jetzt haben sich „Mahila Milan“ und die „National Slum Dwellers Federation“ zusammengetan, um zu einem Wahlboykott aufzurufen. Sie wissen genau, daß die Politiker auf ihre Stimmen angewiesen sind. Massive Wahlpropaganda in den übervölkerten Armenvierteln zeigt, wie wichtig die Wählerblöcke der Slums sind. Auch in Ghula Naidan fahren in diesen Tagen Autos mit Lautsprechern pausenlos durch die Straßen; Wahlslogans mischen sich mit Hindi-Filmmusik. Tausende grüne Wimpel der Janata Dal Party flattern über den Gassen. Die Hand — Symbol der Kongreßpartei — prangt auf bunten Plakaten. Doch die Slumbewohner sehen sich von keiner Partei repräsentiert. Der Wahlboykott ist die Reaktion auf Jahrzehnte der Marginalisierung. „Die Parteien haben die Menschen nur benutzt“, sagt Celine D'Cruz. „Doch die Pavement dwellers haben es satt; sie durchschauen die Politik gegenüber den Slums. Sie wissen, daß sie von den Politikern nichts zu erwarten haben. Die Pavement dwellers helfen sich allein, und die Politiker bekommen jetzt die Rechnung für ihre jahrelange Untätigkeit.“ „Mahila Milan“ gibt es inzwischen in allen größeren Städten von Indiens Süden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen