: „Schlägereien haben wir in Leipzig täglich“
Der Leipziger Hauptbahnhof ist Zentrum von rechtsradikaler Szene und Gewalt/ Linke in Leipzig diagnostizieren abnehmende Attraktivität von Hools und Skins/ Aber: „Lange Haare sind Grund zum Draufschlagen“ ■ Aus Leipzig Rüdiger Rossig
Hütchenspieler, vietnamesische Zigarettenverkäufer, Reisende: Leipzigs Hauptbahnhof ist ruhig, keine Spur von prügelnden Hools, Nazi- Skins oder Faschos. „Skinheads töten 30jährigen Arbeiter“, der 'Bild‘- Aufmacher vom Mittwoch vergangener Woche paßt nicht in diese friedliche Idylle.
„Schlägereien haben wir täglich“, erklärt ein wenig auskunftbereiter Dienstgruppenleiter auf dem Revier Ritterstraße, „Männer schlagen ihre Frauen, Betrunkene prügeln sich...“ Politisch oder gar rassistisch motivierte Auseinandersetzungen hat der Polizist, dessen Verantwortungsbereich die Umgebung des größten Sackbahnhofs Europas ist, seit über einem halben Jahr nicht mehr behandelt: „Damals hatte irgendwer vietnamesischen Zigarettenverkäufern ihre Ware geklaut“ — die Beamten nahmen den Diebstahl auf und leiteten die Geschichte weiter, gefaßt wurden die Täter nie. „Die Leute kaufen doch die billigeren Marlboros und Camels gerne...“ Leipzig, Oase der Ruhe im „wilden Osten“?
Vor einem halben Jahr war hier was los“
Tatsächlich will niemand der Schlägerei an der Haltestelle der Straßenbahn Nummer 17 am Samstag, bei der laut 'Bild‘ ein 30jähriger Arbeiter ein schweres Schädeltrauma davongetragen hatte, politische Bedeutung beimessen: Zwar geistern Gerüchte über Nazi-Attacken durch die Szenekneipen der Messestadt, Genaueres weiß aber niemand. „Vor einem halben Jahr war hier richtig was los“, erzählt ein Besucher des Graphikkellers. Im Leipziger Stadtteil Schönefeld gab es eine Hitler- Jugend, analog zur Berliner Weitlingstraße versuchten Rechte aus Ost und West ein Haus zu besetzen um daraus ein „Braunes Haus“ zu machen, sechzehn- bis zweiundzwanzigjährige Faschos griffen regelmäßig die besetzten Häuser im Zentrum und im Leipziger Stadtteil Connewitz an.
„Die HJ gibt es noch immer, aber die Kids machen jetzt lieber das Frauenzentrum in ihrem Bezirk platt, als im Zentrum Rabbatz zu schlagen.“ Die einzigen Faschos, die zur Zeit in Connewitz auftauchen, wollen gar Gespräche führen. „Wenn vor einem halben Jahr etwas passiert ist, ist immer so ein schicker Herr um die 35 aufgetaucht, einer mit Goldkettchen und so...“ — seitdem der Herr ausbleibt herrscht Frieden. „Die Jungs sind eben nicht organisiert am Anfang sind viele in die DVU, aber da ist wohl jetzt die Luft raus.“ Langeweile, Arbeitslosigkeit und Alkohol sind die Mischung, aus denen die Rechtsschläger ihre Kraft zur Freude am Prügeln gegen Linke und andere beziehen.
Und Politik? „Die sind doch nur schmalspurpolitisch, wenn keiner da ist, der Befehle gibt, kriegen die den Arsch nicht hoch.“ Hinzu kommt, daß die Szene seit einiger Zeit auseinanderläuft: Ein Teil der Ostnationalen ist längst auf der schiefen Bahn gelandet und hat alle Hände voll zu tun, ihre dubiosen Geschäfte zu organisieren. Die andere Fraktion hat die Schnauze voll vom dauernden Ärger mit Vater Staat, und geht in die Eckkneipen der 530.000-Einwohner- Stadt.
Die Haare wachsen, Bomberjacke und Arbeitsstiefel weichen Turnschuhen und Lacoste. Krach schlagen ist nur noch am Wochenende beim Fußball angesagt: Nicht weniger brutal als vor einem Jahr, aber immerhin nicht offensichtlich braun. „Die echten Politfritzen haben sich verzogen“, erzählen Szenekenner, „die sind nach Dresden, Cottbus und Weimar, ganz wie es ihre Bosse befohlen haben.“ Ihre Namen wollen sie trotzdem lieber nicht verraten — die Gerüchte, dies sei die Ruhe vor dem Sturm, verstummen nicht. Zur Zeit jedenfalls fahren nur vereinzelt Jungbraune ziellos in der Stadt herum, um Leute zu verprügeln, die auf irgendeine Art nicht in ihr Weltbild passen: Lange Haare sind Grund zum Draufschlagen genug.
„Unsere Clubs sind faschofrei“
Meidet mensch die wenigen Kneipen, Clubs und Discozelte, in denen sich das Jungvolk am Wochenende sammelt, kann fast nichts passieren: „Die Faschos haben ihre eigenen Kneipen — unsere Clubs, Graphik, Moritzpastei, Villa, Anker und Eiskeller sind faschofrei.“ Die Studentenclubs, bis vor der Wende von der FDJ-Bezirksverwaltung geführt, gelten als sichere Treffs — die Berührungsängste der Jungrechten gegenüber dem linksintellektuellen bis autonomen Spektrum mit DDR-belasteter Clubleitung verhinderten wohl bisher Übergriffe. Was aber kommt, wenn die wenigen Kneipen und Clubs, die die Kurzhaarigen mit dem braunen Hirn noch aufnehmen, schließen oder privatisiert werden, weil der Kommune das Geld ausgeht, vermag niemand zu sagen. „Die Preise in den kommerziellen Clubs werden sich die Faschokiddies sicher nicht leisten können...“
Die Ankündigung des Landes Sachsen zur Einrichtung einer Sonderkommission „Politische Extremisten“ scheint zur Vorbereitung auf den erwarteten Ärger zu gehören.
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