: Der Archipel Ghetto als Seelenlandschaft
US-Erfahrungen: Wie man sich an Ghettos gewöhnt — Vergessen und Nichtwissenwollen der aufgestiegenen Mittelklasse ■ Von Reed Stillwater
Das erste, was ein heranwachsender „kid on the block“ lernt, ist, welche Straßen seiner Nachbarschaft sicher sind und welche nicht. Ghettos sind keine festumrissenen Bereiche. Manchmal wechselt der Bereich von Oberwelt und Unterwelt abrupt von einer Straßenecke zur anderen. Ghettos sind auch nichts Statisches. Sie dehnen sich aus und weichen zurück. Wo heute Ghetto ist, kann morgen Wohngegend sein und umgekehrt. Ghettos sind amorph und dynamisch. Das amerikanische Ghetto ist eher einem organischen Gebilde vergleichbar, das sich verändert, teilt, rück- und neubildet als den ummauerten europäischen Judenvierteln, denen sie ihren Namen verdanken. US-Ghettos sind wie Archipele, allgegenwärtig — wie der Gulag und das Unterbewußte.
Die Ghettos amerikanischer Großstädte sind nicht nur Stadt-, sondern auch Seelenlandschaften. Wer Amerikas Traumata nicht erfahren hat und an seinen Neurosen nicht leidet, versteht ihre Welt nicht und wird auch nicht von ihr heimgesucht.
Amerikas Stadtbewohner haben einen sechsten Sinn entwickelt, mit dem sie Ghettos orten können. Das hat auch etwas von einem Spiel mit Spielregeln an sich. Besuchern aus dem Ausland passiert in den Ghettos amerikanischer Städte häufig nichts. Sie erkennen nicht gleich, wie sich die Welt bei ihrem Gang auf New Yorks 14. Straße nach Westen verändert. Sie bewegen sich quasi unschuldig durch eine ihnen unbekannte Welt, die sie nicht wahrnehmen und von der sie nicht wahrgenommen werden.
Für die meisten Amerikaner ist das Wort Ghetto gleichbedeutend mit der „inner city“. Mit Ghetto assoziiert man verrottetende Mietskasernen, zu Ruinen heruntergekommenen sozialen Wohnungsbau, Überbelegung, Drogen, Prostitution, Bandenkriege, Gewaltverbrechen. Und vor allem: Ghettos sind schwarz. Die lichte Gegenwelt dieser dunklen Seite amerikanischer Städte sind die Suburbs, die einen wuchernden Ring um Amerikas Kernstädte bilden.
Doch lange bevor es in den Städten des Nordens schwarze Ghettos gab, waren da die irischen Ghettos. Diesen folgten die jüdischen und die italienischen, die polnischen und russischen. J. W. Sullivans Beschreibung der irischen Slums von New York in seinem Buch Tennement Tales of New York erhob die 'New York Times‘ in ihrer Ausgabe vom 12. Juni 1985 zur bisher eindrucksvollsten Schilderung des Massenelends. Auch Ghettoaufstände gab es lange vor denen von Watts 1965 und Detroit 1968. Die Iren lösten in den Jahrzehnten zwischen 1830 und 1870 in nahezu jeder größeren amerikanischen Stadt Massenaufstände aus. 1902 lieferten sich in New York 50.000 Juden und 200 Polizisten eine ganztägige Straßenschlacht.
Heute leben Iren, Juden, Italiener und Polen in „Suburbia“ und haben ihre Herkunft aus den Ghettos, in denen sich ihre Einwanderungswellen brachen, vergessen. Die Italiener wollen nichts mehr davon wissen, daß die Plantagenbesitzer des Südens nach dem Bürgerkrieg Italiener für die Arbeit auf den Baumwollfeldern anheuerten, weil die billiger und williger als die befreiten Schwarzen arbeiteten. Man kann sich ausmalen, wie Schwarze und Italiener sich gegenseitig gehaßt haben.
Amerikas Verhältnis zu seinen Ghettos ist vom Vergessen und vom Nichtwissenwollen geprägt. Was haben die Immigranten, die nach den Engländern kamen, mit der Geschichte der Sklaven zu tun? Sie fühlen sich dafür etwa so verantwortlich wie die dritte Nachkriegsgeneration der Deutschen für den Holocaust. Die Iren, Juden, Italiener, die Bulgaren, Polen, Russen und Deutschen haben die Sklaven nicht ins Land geholt und fühlen sich für die Ghettoisierung der Schwarzen nicht verantwortlich. Ghettos sind die belebten Ruinen amerikanischer Geschichte, die ins Licht ragende dunkle Vergangenheit der einzelnen Ethnien, aus denen Amerika hervorgegangen ist. Eine Vergangenheit, mit der die inzwischen assimilierten Ethnien nicht konfrontiert sein wollen. Auch deswegen begegnen sie den Ghettos mit Haß und Furcht.
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