Helvetias Töchter rebellieren

■ Heute folgen Hunderttausende Schweizerinnen dem Aufruf zu einem landesweiten Frauenstreik, um die am 14.Juni 1981 in der Verfassung verankerte Gleichstellung der Frau lautstark einzufordern.

Helvetias Töchter rebellieren Heute folgen Hunderttausende Schweizerinnen dem Aufruf zu einem landesweiten Frauenstreik, um die am 14.Juni 1981 in der Verfassung verankerte Gleichstellung der Frau lautstark einzufordern.

Die Schweiz ist kein Mutterland, sie ist ein Vaterland. Der Name ist weiblich, die Schutzpatronin eine Frau: Helvetia, eine Dame in wallenden Gewändern, ausgerüstet mit Schild und Speer. Sogar auf Münzen findet man sie abgebildet. Aber damit schon genug der Ehre. Im Vordergrund stehen Väter und Söhne — wie es in der früheren Nationalhymne heißt: „Heil Dir, Helvetia, hast noch der Söhne ja.“

Doch Helvetia hat auch Töchter. Aktive Töchter, ungeduldige Töchter. Heute, zehn Jahre nachdem die Gleichstellung der Frau auch explizit in der Verfassung verankert wurde, gehen Hunderttausende Eidgenossinnen auf die Straße, um diesen Grundsatz auch in der Praxis einzufordern. Mit einem landesweiten Frauenstreik wollen sie ihren Forderungen lautstark Nachdruck verleihen.

Zu lange schon haben die Schweizerinnen geduldig gewartet, in der Vergangenheit zum Beispiel auf das Frauenstimmrecht: Zum ersten Mal 1893 vom Arbeiterinnenverband, später auch von bürgerlichen Frauen gefordert, wurde 1959 darüber abgestimmt. Ohne Erfolg. Erst als 1971 eine neue Frauenbewegung die Forderung erneut auf den Tisch brachte, erlaubten die Schweizer Männer den Frauen politische Mitsprache. Allerdings nur auf nationaler Ebene; in einigen Kantonen mußten sie noch länger warten, bis sie mitbestimmen durften. Wieder ein Jahrzehnt später wurde die Gleichstellung in der Verfassung verankert. Doch die hochgesteckten Erwartungen wurden enttäuscht. Im Jubiläumsjahr 1991 müssen Helvetias Töchter feststellen, daß sie nach 700 Jahren Schweiz, 20 Jahren Frauenstimmrecht und 10 Jahren Gleichstellungsartikel immer noch an zweiter Stelle stehen.

Als letzte erhielten die Frauen des Kantons Appenzell-Innerrhoden das Stimm- und Wahlrecht. Die Männer in Appenzell hatten ihnen zuvor ihre politischen Rechte mehrmals verweigert. Hauptargument dabei: Bisher hatten sie einmal jährlich an einer „Landsgemeinde“ im Freien ihre politischen Geschäfte geregelt. Nun befürchteten sie, der „Landsgemeinde“-Platz sei zu klein für Frauen und Männer und sie müßten ihren schönen Brauch wohl abschaffen. Die Appenzeller Geschichte mag folkloristisch anmuten und Nicht-Schweizerinnen zum Lachen bringen. Doch Appenzell ist nicht „die Schweiz“. Und im Schnitt haben Schweizer Frauen wahrscheinlich in etwa dieselben Probleme, rennen gegen dieselben Mauern an wie Frauen in Frankreich, Italien oder Deutschland. Hier wie dort gibt es eine lange Tradition, Frauen als minderwertig zu betrachten. Hier wie dort dürfen Frauen nicht unabhängig über ihren Bauch bestimmen. Hier wie dort haben Frauen Angst, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein, werden Frauen von ihren Partnern geschlagen, kommt es zu Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen. Und hier wie dort organisieren Frauen Selbsthilfe (Frauenhäuser, Nottelefone) — Aktivitäten, bei denen sich der Staat mit Unterstützung viel Zeit läßt.

Eine wunderschöne „Zwängerei“

Natürlich gibt es Unterschiede, die Situation der Frauen ist nicht in allen westeuropäischen Staaten genau gleich. In der Schweiz sind im Bundesparlament 86 Prozent der Sitze von Männern belegt, in der Landesregierung gab es bisher erst eine Frau. Für die gleiche Arbeit bekommt eine Frau laut einer staatlichen Untersuchung von 1989 im Schnitt 30 Prozent weniger als ein Mann; doppelt soviel Frauen wie Männer gehören den untersten Einkommensgruppen an. 37 Prozent der Erwerbstätigen sind Frauen, doch die Infrastruktur für berufstätige Mütter ist lausig: Ganztagsschulen gibt es kaum, und es fehlt an Krippenplätzen; in der Stadt Zürich (knapp 350.000 EinwohnerInnen) fehlen beispielsweise rund 1.700 Betreuungsplätze. Zwei Drittel aller Mädchen absolvieren eine Berufslehre — allerdings meist in typischen Frauenberufen. An den Unis sind fast 40% der Studierenden Frauen, bei den Professoren machen sie dagegen winzige vier Prozent aus. Von den 259 größten Unternehmen beschäftigen 122 keine Führungsfrau.

Und weiter: Unter den fünf bis zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung, die am Rande des Existenzminimums leben, sind überdurchschnittlich viele Frauen — Rentnerinnen, alleinerziehende Mütter (wobei, wie überhaupt beim Thema Armut, genauere Zahlen fehlen). Noch immer ist die Forderung nach einer familienstandsunabhängigen Altersrente für Frauen nicht verwirklicht. Dafür bezahlen Frauen höhere Krankenversicherungsbeiträge. Einen anständigen Mutterschafts- oder gar Elternurlaub gibt es nicht. Abtreibung ist nur erlaubt, wenn die Gesundheit der Mutter in Gefahr ist — allerdings wird in städtischen Kantonen diese medizinische Indikation so liberal ausgelegt, daß daraus auch eine sozial-psychische Indikation werden kann.

Daß Zahlen, Daten und Fakten zur Situation der Frau überhaupt erhoben werden, ist nicht zuletzt den Gleichstellungs-Büros zu verdanken, die auf nationaler Ebene in acht Kantonen und einigen großen Städten geschaffen wurden. Ihr Handicap: Sie haben kaum Durchsetzungskompetenzen und wenig Möglichkeiten, Sanktionen zu ergreifen. Ihr Vorteil: Sie werden meist von ideenreichen Power-Frauen geführt. Die Büros waren eine administrative Antwort auf den Gleichstellungsartikel: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre Gleichstellung, vor allem in der Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit“, bestimmt Artikel vier. Doch Papier ist geduldig. Gestützt auf den Gleichstellungsartikel haben es immerhin einige Frauen gewagt, ihr Recht auf gleichen Lohn vor Gericht einzufordern — meist mit Erfolg. Aber Aufwand und Risiko sind hoch: Eine von ihnen, eine Schauspielerin, handelte sich mit ihrem Prozeß ein Quasi-Berufsverbot ein. Angst vor Schikanen und Kündigungen hält viele Frauen von einem Verfahren vor dem Arbeitsgericht ab. Dieses und andere Probleme sollen jedoch mit einem Gesetz gelöst werden, das den Gleichstellungsartikel ausführt und konkretisiert. Fachfrauen befürchten allerdings, daß dieses Gleichstellungsgesetz erst im Jahre 2000 in Kraft treten wird.

Außer den Gleichstellungsbüros, einigen Arbeitsprozessen und selbstgerechten Politikeransprachen hat der Gleichstellungsartikel noch wenig konkrete Auswirkungen gehabt. Außer daß — selbstverständlich im Namen der Gleichberechtigung — gewisse Forderungen an die Frauen gestellt werden: Gleiche Rechte heiße auch gleiche Pflichten, also sollten sie gefälligst auch Militärdienst leisten — ein Spruch, der nicht nur an bierseeligen Stammtischen zu hören ist. Die Arbeitgeber wollen das Frauen-Nachtarbeitsverbot in der Industrie abschaffen. Argument: es diskriminiere schließlich die Frauen. Dafür hat sich kürzlich ein Mann vor dem höchsten Gericht eine Witwerrente erstritten, einem anderen billigte ein Kantongericht eine volle Altersrente zu, obwohl er erst das Rentenalter für Frauen erreicht hatte. Beide Urteile stützten sich auf den Gleichstellungsartikel. Und für Frauenohren geradezu zynisch mutet die Argumentation der Richter an: Die Frist für den Gesetzgeber, bezüglich des Rentenalters eine Gleichstellung einzuführen, sei zehn Jahre nach Annahme des Gleichstellungsartikels abgelaufen.

Manchmal würde frau gerne laut und ausschweifend fluchen, weil sich die Situation der Frauen so unendlich langsam verändert. Manche tun's oder sprayen ihre Wut an Hauswände. Aber in der Schweiz — und das bezieht sich nicht nur auf Frauenforderungen — wird schief angeschaut, wer der Sache nicht ihren gemächlichen Lauf lassen will, der bestimmte Themen immer wieder aufbringt — oder, wie das auf Schweizerdeutsch genannt wird, wer „zwängt“. Die „Zwängerei“ mit dem Frauenstreik verärgert im Moment viele — leider auch Frauen. Einige Frauen meinen, daß „wir doch schon vieles erreicht haben, daß wir doch, wie bisher, miteinander reden sollten“. Daß sich die Frauen mit dem Streik bloß lächerlich machten, daß er sich eigentlich gegen die Männer richte, was nicht gut sei. Daß Streik Erpressung sei, unweiblich, bloß die Fronten verhärte... Zum Glück haben viele Frauen positiv auf den Streikaufruf reagiert. Und deshalb wird es eine wunderschöne „Zwängerei“ werden, am 14.Juni. Und danach erst recht. Bettina Büsser, Zürich