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„Besitz fand ich lächerlich“

Steffie Spira, Schauspielerin aus Leidenschaft, Kommunistin aus Überzeugung, forderte am 4.November 1989 die SED zum „Abtreten“ auf. Heute berät sie die PDS.  ■ VON ULRIKE HELWERTH

Es muß im Winter 1939 gewesen sein, kurz vor der ersten Weihnacht im Lager. Einige der Häftlinge von Rieucros hatten die Erlaubnis bekommen, hinunter nach Mende zu gehen. Während des Freigangs schlüpfte sie unbemerkt in die Kathedrale und stand dort eine Weile vor der Krippe. „Nein“, sagte sie endlich ganz laut ins Halbdunkel hinein, und erschrak als ein Priester auf sie zueilte, „mais Madame!“ Sie aber drehte sich um: „Nein, das lohnt sich nicht.“

Steffie Spira hatte schon in jungen Jahren entschieden, daß sie keinen „lieben Gott“ brauchte — und dabei blieb es. Die Tochter einer protestantischen Mutter und eines jüdischen Vaters, glaubte an etwas Besseres: den Kommunismus. Und dieser Idee, so beteuert die 83jährige Schauspielerin noch im Mai 1991 mit Stolz, sei sie bis heute treu geblieben — trotz aller Enttäuschungen, Widersprüche und Zweifel. „Auch wenn es ein Land wie die DDR nicht mehr geben wird — und ich bin froh, daß es zu Ende ist — kann der Sozialismus als Idee nicht untergehen, denn zu viele Menschen haben sich schon früher von dem Gefühl erregen lassen, daß die Überheblichkeit der Rassen und Klassen lächerlich ist.“ Eineinhalb Jahre nach ihrer berühmten „Abtrittsrede“ am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, acht Monate nach dem „Anschluß“ sagt sie das im Brustton der Überzeugung.

In die Wiege war Steffie Spira der Kommunismus nicht gelegt worden, wohl aber die Schauspielerei. Geboren 1908 in Wien als jüngste Tochter der Schauspielerin Lotte Spira-Andersen und des Schauspielers Fritz Jacob Spira erlebte sie in Berlin eine recht bewegte Kindheit. Der Vater liebte seinen Beruf, das Spiel, die Frauen und seine Familie. War Geld da, wurde es großzügig ausgegeben, bei Ebbe in der Haushaltskasse kamen die Möbelpacker, um das Mietklavier abzuholen. Wenn die Schulden getilgt waren, schleppten sie es die vier Treppen wieder hoch. Der Vater „wollte ein bürgerliches Leben führen und wünschte, daß seine Kinder bürgerlich aufwuchsen. Aber gerade er brachte uns dazu, ein Bohème-Leben zu führen“, schreibt Steffie Spira in ihrer Autobiographie1.

Mit 17 zieht sie von zu Hause aus, bekommt ihre erste Rolle am „Theater an der Stresemannstraße“ — ihr Traum, das Tanzen ist wegen einer schweren Fußverletzung zerplatzt. 1928 erstes Engagement bei der „Volksbühne“, die sie erst 1990, nach 62 Jahren, als „Dienstälteste“ verläßt. Dazwischen liegen 14 Jahre Exil. 1931 heiratet sie den Mann ihres Lebens: den jüdischen Schauspieler und Dramaturgen Günter Ruschin. „Wenn aus mir ein Mensch geworden ist, so hat Günter den größten Anteil daran“, schreibt Steffie Spira noch 20 Jahre nach dem Tod ihres Gefährten und Genossen verklärt.

1931 auch Eintritt in die KPD. Ausgetreten ist sie offiziell nie. Kritik an Stalinismus und Realsozialismus macht sie auf insistierende Fragen zwar geltend, aber sie kann bis Herbst 1989 nicht sehr heftig oder sehr laut gewesen sein. In ihrer Autobiographie und ihren Tagebuchnotizen steht diesbezüglich bis zur Wende mehr zwischen als in den Zeilen — keine Zurückhaltung aus politisch- publizistischen Gründen, wie die Autorin versichert. 1933 entkommen Steffie Spira und Günter Ruschin durch glückliche Umstände den Nationalsozialisten. Exil in Frankreich — dort kommt ihr Sohn Thomas auf die Welt. 1934 ist Steffie Spira bei der Gründung des deutschsprachigen Exilkabaretts „Die Laterne“ in Paris dabei. Einer der Höhepunkte 1937: Die Uraufführung von Berthold Brechts Die Gewehre der Frau Carrar mit Helene Weigel in der Hauptrolle. 1939 wird Steffie Spira im Frauenlager Rieucros in Südfrankreich interniert, ihr Mann kommt ins Lager Le Vernet. 1941 Emigration der Familie nach Mexiko. Den Kontakt zu ihren Eltern und ihrer Schwester Camilla hat Steffie Spira inzwischen verloren. Daß ihr Vater 1943 in einem jugoslawischen Konzentrationslager ermordet wurde, daß ihre Mutter kurz danach starb, erfährt sie viel später.

Zwei Schwestern — zwei Welten

Camilla Spira, die zwei Jahre Ältere, lebt inzwischen mit ihrem jüdischen Mann und ihren beiden Kindern in Holland im Exil — knapp dem Transport in eines der Vernichtungslager entkommen. Nach dem Krieg kehrt sie mit ihrer Familie nach Deutschland zurück. Im Westen feiert die bereits in den zwanziger Jahren bekannte und zunächst auch von den Nazis als „Darstellerin der deutschen Frau“ hofierte Theater- und Filmschauspielerin schnell ein Come-back. Von ihrer jüngeren Schwester Steffie, die inzwischen mit Mann und Sohn in Ost-Berlin lebt, trennt sie nicht nur die innerdeutsche Grenze, sondern auch ein ideologischer Graben. Zwei Welten, zwei Karrieren, eine deutsch-deutsche Geschichte. Doch die Weltgeschichte und das Alter haben die beiden Schwestern wieder näher zueinander gebracht. Fürs Familienalbum und die Medien posiert das ungleiche Paar schon mal friedlich tête-à-tête — Camilla, die Damenhafte, mild lächelnd, Steffie, die Robuste, schalkhaft schmunzelnd.

„Ich habe meine ältere Schwester immer wegen ihrer beruflichen Erfolge bewundert“, bekennt Steffie Spira freimütig — aber nie wegen ihres Wohlstandes: „Auch als ich arm war, habe ich nie darunter gelitten, denn dieses langweilige Leben des Habens hat mich nie gereizt.“ So, wie sie da sitzt, in ihrem einfachen schwarzen Strickkleid, das weiße Haar wie ein junges Mädchen seitlich gescheitelt, halblang abgeschnitten und nachlässig hinters Ohr gestrichen, in ihrer sonnigen, aber nicht sonderlich ordentlichen Drei-Zimmer-Neubauwohnung, wirkt das sehr glaubwürdig. Bescheidenes Mobiliar, überall Bücher, Bilder, Fotos von Familienangehörigen und FreundInnen. Auf Regalen und Schränken allerhand Krimskrams — Erinnerungen.

Kein Leben des Habens sicherlich, auch wenn die Rente, die sie als Verfolgte des Naziregimes erhält, ein ordentliches Polster geschaffen hat. „Besitz“ aber fand Steffie Spira immer „lächerlich“. Nur einmal hat sie sich einen „angelacht“, als sie 1974 für ihre EnkelInnen am Stadtrand Berlins eine Datsche kaufte — für 8.000 D-Mark. Für genau den selben Preis verkaufte sie das Grundstück zehn Jahre später. Und sie freut sich heute noch diebisch über den Aufschrei der Verwandtschaft ob solchen Unverstands. Aber hat sie sich, ohne materiellen Reichtum, in der DDR nicht auch gelangweilt? Das Nein kommt ohne Zögern, fast entrüstet. „Ich habe immer wunderbare Freunde gehabt, bis heute.“ Die Schwester hingegen im Westen sei trotz ihres Wohlstandes oft „schrecklich alleingelassen“. Schwingt da nicht ein wenig Triumph in der Stimme? Als ersten der unverbrüchlichen Freunde nennt sie den längst toten Egon Erwin Kisch, schwärmt von den gemeinsamen Zeiten im mexikanischen Exil und den wenigen Jahren danach, als sei es gestern gewesen. Und natürlich Anna Seghers. Die Schriftstellerin, Aushängeschild der offiziellen DDR-Literatur, war Freundin fürs Leben — trotz mancher, auch heftiger Kritik, aber „über manche Dinge habe ich mit der Anna einfach nicht mehr diskutiert.“ Jahre später erst erfuhr Steffie Spira, daß Anna Seghers für sie und ihre Familie die Passage bezahlt hatte auf dem sowjetischen Dampfer, der sie 1947 aus dem mexikanischen Exil zurück nach Deutschland brachte. Sie hatte dies für eine selbstverständlich kostenlose Geste der Partei erachtet.

Während des Krieges und des Exils, so erzählt Steffie Spira heute, hätten sie und ihr Mann sich mit „manchen Dingen“ in der Partei „sehr schwergetan“. Dann aber habe „knallhart“ die Überlegung gesiegt: „Wie sollen wir je nach Deutschland zurückkommen, wenn wir nicht in der Partei bleiben?“ Steffie Spira jedoch wollte überhaupt nicht mehr nach Deutschland, sondern nach Österreich oder in die Schweiz. Denn auch während des Exils hatte sie festgestellt: „Die Deutschen waren die Schlimmsten. Viele spielten sich als Arsch der Welt auf“, und auch unter den GenossInnen habe es „gräßliche Menschen“ gegeben, „die entsetzlich rechthaberisch waren und genau auf Linie achteten.“ Doch Günter Ruschin, „ein richtiger Deutscher“ aus Pasewalk hatte Heimweh. Außerdem waren jetzt „die Freunde“ an den Theatern in Ost-Berlin, und die Zukunft schien gesichert. „Wir dachten auch, daß es unserem Sohn gut tut, wenn er an eine Schule kommt, die von uns geleitet wird“ — fast amüsiert klingt Steffie Spiras tiefes Lachen über „unsere Vorstellungen, die sich in keiner Weise erfüllt haben“.

Ich sagte immer: „Das Wunderland sind wir“

Aber die Stimmung, „daß wir, die Überlebenden, eine neue Welt aufbauen (konnten), ohne Krieg, erfüllt von den Ideen des Kommunismus“, muß noch lange überwogen haben. „Als wir 1947 ins zerbombte Berlin zurückkehrten, dachten wir, wir sehen die Stadt aufgeräumt nie wieder, da werden wir darüber sterben. Und dann ging doch alles so schnell. Deswegen habe ich immer gesagt: Das Wunderland sind wir.“ Noch am 20. Januar 1962 schreibt Steffie Spira über den Mauerbau in ihr Tagebuch2: „Dann kam der 13. August, den ich in Liebenstein verbrachte, zwecks ,Herzstärkung‘. Nun sind wir also alle gestärkt. Sicher war es nötig, aber es wäre doch um vieles schöner gewesen, die Menschen hätten nicht in diesem Ausmaß mit den Beinen gegen uns gestimmt, und wir hätten sie von unserem Weg überzeugt und das Leben bei uns ihnen liebens- und lebenswert gemacht. Denn es geht um die Menschen.“ Damals war es schon fast vier Jahre her, daß Günter Ruschin, Chefdramaturg an der Volksbühne, in Ungnade gefallen war. Im Schwitzbad von Wladimir Majakowski hatte er eine Figur mit Stalins Zügen auftreten lassen. Das Stück wurde verboten, Ruschin durfte das Theater nie mehr betreten. Steffie Spira aber konnte dort weiterhin unbehelligt auf der Bühne stehen. Zwei Jahre vorher, im April 1956 hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben: „Für mich ist Stalin immer noch ein Riese unseres Jahrhunderts, der mit Mut und Weitblick die Völker der Sowjetunion und viele der Volksdemokratien zum Frieden und Aufbau geführt hat.“

1963 starb Günter Ruschin. Danach wäre sie am liebsten aus der DDR weggegangen, gesteht sie im offenen Widerspruch zu vorausgegangenen Beteuerungen. Denn: „Eine wirkliche Heimat habe ich nie gehabt, dazu war ich zu lange fort und auch zu kritisch.“ Aber sie habe ihrem Mann versprochen, daß sie solange wie möglich an der Volksbühne und im Lande bleiben werde. Hat sie je bereut, daß sie sein Testament erfüllt hat? Ja und nein, manchmal. 1989 wäre sie gern nach Schweden gegangen: „Aber da war ich schon zu alt.“ Das klingt merkwürdig resigniert.

„Das Maß war schon lange vorher voll“, sagt Steffie Spira heute. Die größte Enttäuschung habe sie bereits 1954 erlebt, als in Berlin die Viermächtekonferenz tagte und die Teilung der Stadt zementiert wurde, als keine riesigen Demonstrationen vom Tiergarten und von Unter-den-Linden her sich am Brandenburger Tor trafen und dort die Einheit des Landes forderten, wie sie sie erträumt hatte. Später habe sie sich „abgewöhnt enttäuscht zu sein, daß die Menschen immer kuschen und bereit zur Unterwerfung sind“, weicht sie der Frage nach einer Mitschuld, nach eigenen Versäumnissen aus. Nach Opposition, „Verschwörungen oder anderem Quatsch“ stand ihr nie der Sinn. „Ich habe mich aber nie geniert, meine Meinung zu sagen.“ In Theater- und Freundeskreisen war sie bekannt für ihre oft franken Reden. 1968, nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei, sagte sie laut, daß es unbegreiflich und völlig instinktlos sei, daß die NVA mit den alten Nazi-Uniformen ausgerechnet in der CSSR einmarschierte. Die SED- Obrigkeit überging auch das. „Daß ich mich immer nur so kleinpiefig im Theater und nie im größeren Rahmen eingesetzt habe“, das bereut sie heute manchmal. Diese Möglichkeit ergriff sie erst beim „letzten Läuten“, am 4. November 1989, „als die Menschen endlich bereit waren, zuzuhören“. Da hielt sie jene Rede, mit der sie in die Geschichte eingehen wird, und die mit den Sätzen endete: „Aus Wandlitz machen wir ein Altersheim. Die über 60- und 65jährigen können jetzt schon dort wohnen bleiben, wenn sie das tun, was ich tue, ,abtreten‘. Das aber hat sie bisher nicht getan. Zwar ist sie von der Theaterbühne abgetreten, nicht aber von der politischen. Ende November 1989 war ihr allerdings „im Augenblick zum Sterben“. Da notierte sie in ihrem Tagebuch: „Muß, wird das Maß bis zur Neige gehen? Nicht einer der führenden Genossen des ZK hat eine weiße Weste, nicht einer hat an das Gewissen der anderen gerührt, weil sie alle im Dreck des Habens erstickt sind. Und ich dumme Trütsche habe wirklich an einen Kommunismus geglaubt, in dem der Einzelne für das Wohl der anderen lebt.“ Warum hat aber sie ihr „feines Gespür für Menschen“, auf das sie so große Stücke hält, hinsichtlich der politischen Realitäten in der DDR über Jahrzehnte hinweg so betrogen? Weil sie eben „zu blauäugig“ gewesen sei und einfach nie habe wahrhaben wollen, wie „instinktlos und entsetzlich banal“ die SED-Spitze die Macht mißbrauchte, antwortet die derart Ernüchterte. In der gleichen Eintragung, Ende November 1989, fragt sie sich: „Muß ich mit 81 Jahren noch einmal von unten anfangen?“ Will heißen, „daß ich noch einmal Menschen suchen muß, mit denen ich gemeinsam glauben kann, daß etwas Besseres kommt?“

Viel Zeit gibt sie sich dafür nicht mehr, denn ihr Herz ist sehr krank, und die ÄrztInnen mahnen ständig zur Ruhe. Aber noch immer hält sie es in ihren vier Wänden nicht lange allein aus, noch immer sucht sie das Leben. Und sei es im Ältestenrat der PDS, den Gregor Gysi alle paar Wochen zusammenruft, um — und das klingt selbstbewußt — „von den Erfahrungen von uns alten Genossen zu profitieren. Und ich sehe gar nicht ein, warum ich da nicht mitmachen soll.“

1Steffie Spira: Trab der Schaukelpferde. Autobiographie. Kore Verlag, Freiburg 1991;

2Steffie Spira: Rote Fahne mit Trauerflor. Tagebuchnotizen. Kore Verlag, Freiburg 1990.

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