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Wie schön war doch der „Tag der deutschen Einheit“

Wenn die Deutschen am 17. Juni erstmals arbeiten müssen, grämen sich in den Niederlanden die Spargelbauern über fehlende Einkaufstouristen  ■ Aus Arcen Henk Raijer

Einig waren sie sich, millionenfach, jahrzehntelang, eigentlich nur in einem, am Tag der deutschen Einheit: Sie machten rüber. Nicht etwa die Ossis, nein, gemeint sind Abertausende von Duisburgern, Krefelderinnen, Neußern und Düsseldorferinnen, die traditionell am 17. Juni fluchtartig über die Grenze fuhren, ins Land, wo Milch und Honig fließt und mehr als reichlich Spargel sprießt. Nun gibt es ihn nicht mehr, den Tag, der Hollands Krämerseelen goldene Nasen verhieß und die Volkswirtschaft des Königreichs boomen ließ. Den westlichen Nachbarn der Deutschen ist der Fall des 17. Juni ein arger Verlust. Denn immer wenn der Kalender den konsumfreudigen Deutschen diesen frühsommerlichen Feiertag bescherte, bildeten sich an Hollands Schlagbäumen endlose Schlangen wartender Pkw, begehrten ganze Familien Einlaß, um den Wert ihrer hart erwirtschafteten D-Mark am ökonomischen Gesamtprodukt des kleinen Nachbarn messen zu dürfen.

Konsumiert wird schwerpunktmäßig in der Grenzregion, in Städten wie Venlo, Nijmegen, Arnhem oder Groningen. Welcher Niederrheiner erinnert sich nicht an die obligatorischen Butterfahrten im von Nahrung und Genuß völlig überladenen Käfer der Eltern, später dann an abenteuerliche Marihuana-Expeditionen mit dem präparierten Moped? Als wäre es gestern, erinnert sich der Autor, wie sich alljährlich am 17. Juni ganze Wagenkolonnen über die Grenze quälten, wie minutiös die Zöllner Handschuhfächer und Reservereifen nach Kontrabande absuchten. Geradezu genial die Gegenstrategie, Oma, Nachbarkinder und sogar kranke Familienmitglieder zu mobilisieren, um auf legale Weise vier Pfund Butter, Tee oder Kaffee zusätzlich mit rübernehmen zu können.

Heute hat die Preispolitik der EG den grenzüberschreitenden Einkaufstourismus zum reinen Kulturereignis gemacht. Auch wenn das Preisniveau sich nur noch bei wenigen Konsumgütern unterscheidet, und auch wenn so manche niederländische Hausfrau bei Aldi und Rewe auf der deutschen Seite zum Einkaufen fährt — eine Grenzstadt wie Venlo verdient auch heute an den Deutschen wie schon in den sechziger Jahren. „Millionenumsätze machen die Einzelhändler in unserer Stadt pro Feiertag“, sagt der Vorsitzende der Einzelhandelsorganisation, Winters, „und das alles in D-Mark, unserer Leitwährung.“

Profitieren tun auch die eher ländlichen Kommunen. Sei es für einen Tag oder für wenige Stunden: Sie kommen hauptsächlich in der Periode zwischen Anfang Mai und dem 24. Juni — es lockt das „weiße Gold“. Bis zum Namenstag des Heiligen Johannes ist Spargelsaison im katholischen Süden, zum Beispiel im 2.700-Seelen-Kaff Arcen — für Hunderttausende von Rheinländern und Ruhrpöttlern ein Begriff. Arcen — der Ort ist Synonym für Spargel, genauso wie das niederrheinische Walbeck auf der anderen Seite — doch das ist eben nur Deutschland, kein Ausland, ergo langweilig.

Teuer genug ist das Edelgemüse auch in Holland allemal, und das hängt mit Angebot und Nachfrage zusammen: In sechs Wochen muß der weiße Stengel mit dem wohlschmeckenden Köpfchen seinen Erzeugern und Vertreibern goldene Eier legen. Am 24. Juni ist endgültig Schluß. Das wiederum hängt nicht unbedingt mit dem Wetter zusammen. In gläubiger Vorzeit nämlich richteten die Bauern ihre Arbeit fast ausschließlich nach den Namenstagen ihrer Heiligen aus. Beim Spargel allerdings hat dieser Fixtag auch pragmatische Gründe: Nach sechs bis sieben Wochen Ernte fängt die Pflanze an zu „bluten“, sie verliert lebensnotwendige Säfte, welche die Wurzel für die nächste Saison so dringend braucht.

„Der Preis schwankt eigentlich ständig, ob nun das Wetter schlecht ist, und der Spargel nicht richtig wächst, oder ob er reichlich da ist, und die Kunden ausbleiben“, sagt der Arcener Gemüsehändler Hai Peeters. Der rührige Kaufmann betreibt einen kleinen Laden im Niemandsland, dem verkaufsstrategisch günstigsten Standort des Städtchens an der Maas. Peeters verkauft alles, von der Streichholzschachtel über Kaffee und Gemüse bis hin zu Flüssiggas und Spargel. Und 99 Prozent seiner Kunden kommen aus der BRD. Sein Laden ist nur der erste in einer Kette von provisorischen Spargel-Verkaufsständen in der Hauptzufahrtsstraße. Ausgestattet mit Sondergenehmigungen für spätabends sowie sonn- und feiertags machen sogar Lehrer und Bauunternehmerinnen mit handgemalten Schildern in deutscher Sprache auf ihr täglich frisches Produkt aufmerksam.

Einzig gültiges Zahlungsmittel ist hier die D-Mark, wer Gulden mitbringt, hat selber Schuld: Da gibt's einen Aufschlag von bis zu 15 Prozent. Peeters, gelernter Maurer: „An einem Toptag wie einem deutschen Feiertag verkauft hier in Arcen ein einziger Bauer oder Händler durchschnittlich mehrere zehntausend Kilo, das sind Umsätze, die in die Hunderttausende gehen.“ Nicht nur er blickt voller Sorge auf den kommenden Montag. Der Auftakt 1991 war ohnehin schlecht, zu lange mußte die weiße Frucht in diesem Frühling mit Bodenfrost kämpfen. Entsprechend kläglich war die Ausbeute zu Beginn der Saison. Obwohl die verantwortungsvolle, ausschließlich manuelle Erntearbeit auf beiden Seiten der Grenze außer von Frauen mittlerweile auch von Polen gemacht wird — „die sind auch mit weniger zufrieden“ (ein Spargelbauer) —, dürfte das Ergebnis im Vergleich zum Vorjahr am Ende mager aussehen.

Obwohl sich der Ort mit der Zeit von der Abhängigkeit von landwirtschaftlichen Erzeugnissen emanzipiert hat und mit Erfolg an der boomenden Tourismusindustrie partizipiert, bleiben Produkte wie Spargel, Erdbeeren und Blumen eine gewichtige Einnahmequelle. Das gilt im übrigen für die gesamte Grenzregion. Jahrelang haben die Bauern und Händler auf die gesetzlichen Feiertage jener zahlungskräftigen Kunden aus dem östlichen Ausland gesetzt. Da ist der neue Tag der Einheit im Herbst ein empfindlicher Verlust und wird eine nicht unerhebliche Lücke in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Region hinterlassen.

Verdienen tun die Niederländer traditionell auch ohne diese direkte Abschöpfung von Kaufkraft ganz gut an den Deutschen; schließlich blieb nach der Statistik der deutsch-niederländischen Handelskammer in Den Haag für das Jahr 1990 die Bundesrepublik wichtigster Handelspartner der Niederlande: Ein Warenwert in Höhe von rund 56 Milliarden D-Mark wurde im vergangenem Jahr über die Schlagbäume geschafft, gut 14 Prozent davon aus Nahrungsmitteln pflanzlichen Ursprungs. Die niederländischen Waren deckten wie schon im Vorjahr zehn Prozent des deutschen Importbedarfs — auch 1990 blieben die Niederlande damit zweitwichtigster Lieferant der Bundesrepublik. Und außer als Konsumenten von Kaffee, Gemüse und Tabak lassen die Deutschen auch sonst so manche Mark im Land der Deiche und Tulpen: Über drei Millionen Touristen aus der Bundesrepublik hat das „Centraal Bureau voor de Statistiek“ (CBS) für das Jahr 1990 errechnet, davon 1,7 Miollionen als Tagesausflügler. Pro Nase, so das CBS, stecke der gemeine deutsche Besucher am Tag 40 D-Mark in die holländische Ökonomie.

Zahlen, die zeigen, daß die Niederländer keine rechte Freude am neuen Tag der deutschen Einheit im trüben Herbst haben können. Wenn also an diesem Montag in Deutschland erstmals am 17. Juni wieder gearbeitet wird, hat das nicht nur für die pfiffigen Spargeldealer Konsequenzen. Auch Amsterdam, die Tulpenfelder oder die Nordseebäder werden das Ausbleiben der Deutschen unweigerlich bemerken. Wie schön, so werden sie sich grämen, war doch der „Tag der deutschen Einheit“, als es die Einheit noch nicht gab.

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