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Ende der Schattenlage

„Nightlines/Nachtregels“: Eine außergewöhnliche Ausstellung in Utrecht  ■ Von Jochen Becker

Auf dem Weg kurz vor Amsterdamm, in der geschützten Ecke zweier breitspuriger Autobahnen, ruht Utrecht. Hinter einem Betonkomplex aus Shopping-Center und Bahnhof versteckt sich für den Durchreisenden die erstaunlich großzügige mittelalterliche Altstadt. Innerhalb eines verzweigten Grachtensystems schlängeln sich schlicht herausgeputzte Häuserzeilen, die sich zu wenigen Plätzen hin öffnen und auch ohne ausgewiesene Fußgängerzonen ein Paradies für Radler und Schlenderer abgeben. Am Kanal kann man im Sommer unterhalb des Straßenniveaus sitzen, essen, trinken oder dösen; sofort stellt sich Urlaubsstimmung ein.

Bei Nacht besehen ist die Innenstadt, abseits von nach außen verbannten Leuchtreklamen der Ladenketten, ein echt düstres Pflaster. Utrecht liegt, obwohl beileibe kein Provinznest, auch kulturell im Schatten der umliegenden Großstädte. Dies soll sich einen Sommer lang ändern: Sjarel Ex und seine Mitarbeiter vom Centraal Museum lassen ein halbes Jahr lang einleuchten. 22 Künstler wurden eingeladen, an ebenso vielen öffentlich zugänglichen Punkten in der Stadt eine spezielle Installation mit Schrift und Licht für die Ausstellung Nightlines/Nachtregels zu erarbeiten. Parallel dazu präsentiert das Centraal Museum bei Tag innerhalb seiner Klostermauern weitere Arbeiten unter dem Titel Words withour thoughts never to heaven go.

An der Oudegracht 346 steht schmal und geduckt das kleinste Haus der Innenstadt. Darüber, in die Lücke zwischen den beiden massiveren Nachbargebäuden, zwängt Jessica Diamond den Neonsatz Your dreams merge here hinein, als wolle sie für ein melodramatisches Broadway-Musical werben. Rammellzee, Sprayer aus Queens, berankt die Rückseite des Doms mit schreiend bunten Neonschleifen, umrahmten Hirschgeweihen, lichtverzierten Photos und chinesischen Schriftzeichen, die weit in die Nacht hinausstrahlen und so die (menschlichen) Nachtschwärmer anlocken. Entgegen der leisen Befürchtung der Organisatoren, ein Klein-Las Vegas angezettelt zu haben, verschmelzen die meisten Arbeiten mit ihrem Umfeld, sind unprätentiös, kaum aufdringlich und der Randlage Utrechts angemessen. Statt den Alltag zu ästhetisieren, durch Kunst aufzuschnicken oder mit Lichtzauber wegzublenden, umspielen die Installationen geschickt ihren Ort. Weder wandelt sich so die Stadt zum Freiluft-Spektakel-Museum, noch dienen ihre Gebäude damit allein als attraktive Sockel für Plastiken.

Allen Ruppersbergs Arbeit ist leicht zu übersehen. In der engen Korte Smeestraat installiert er in regelmäßigen Abständen auf jeder Straßenseite acht kleine, runde Leuchtschilder, wie sie beispielsweise als Hinweise für Gaststätten oder Schuster eingesetzt werden. Auf der einen Seite wandelt sich die Scheibe zwischen hell und dunkel, als würde ein Rollo gezogen oder umgekehrt der Neumond langsam zum Vollmond heranwachsen. Für die Gestaltung der Rückseite fragte sich Ruppersberg von Haus zu Haus und entwickelte darauf berufsbezogene Piktogramme mit Bezug auf die jeweiligen Anwohner. Hierbei verwendet er zur Verfügung gestelltes Bildmaterial oder erfindet eigene Bildzeichen.

Im kleinen Nachtregels-Stadtführer kann man sich vergewissern, daß das Schild mit dem lachenden Haus oder der von einer Häuserwand abstehende Neonhalbkreis doch nicht zur Veranstaltung gehören. Und auch die Prostituierten, die sich in hellerleuchteten Schaufenstern anbieten, findet man nur per Zufall auf dem Weg durch die Gassen. Der Rotlicht-Distrikt gehört zum alltäglichen Stadtbild, die Antimücken- Leuchte auf der Wasserpumpe vor dem Geertekerhof wiederum nicht, hat sie doch Patrick Corillon hier installiert. Auf dem mindestens zwei Stunden währenden Nightlines- Rundgang stößt man auf gekennzeichnete, aber ebenso häufig auf plötzlich hinzutretende, anonyme Licht- und Schriftobjekte: Gleich neben Les Levines Leuchtkästen prangt eine Werbetafel für McDonalds; inmitten Ilya Kabakovs Wand-Installation langweilt sich ein Polizist am erhellten Fenster der Wache.

Dem Wasserturm hat John Körmeling in Leuchtschrift ein liegendes „ZWART“ hinzugefügt, so daß man ganz nahe an den Fuß des Gebäudes herantreten muß, um es überhaupt lesen zu können. Vom Flugzeug aus scheint der Hinweis aufs „Schwarze“ unterm Nachthimmel dann spiegelverkehrt. Zum Verständnis von Korrie Besems Neon- Rebus an der Lange Nieuwstraat muß der Kunst-Tourist aus dem benachbarten Ausland schon Einheimische um Hilfe bitten — ein netter Beitrag zur Völkerverständigung.

Publikumsmagnet ist jedoch Jenny Holzers weithin sichtbare Laserprojektion auf den Kirchturm des Doms: Wie von Geisterhand schreiben sich grüne Buchstaben zweireihig die Mauern empor. Im Unterschied zu ihren sonstigen Textarbeiten auf LED-Elementen ist mit Verlöschen des Laserstrahls außer dem bekannten Gemäuer kein bleibender Schriftträger mehr zu sehen. Noch weit nach Mitternacht harren die Passanten unterhalb des Turms aus, um die in immer neuen Effekten abspulenden Schriftzüge zu entziffern. Überhaupt war halb Utrecht auf den Beinen; übers ganze Stadtgebiet verteilt spielten auf LKW-Ladeflächen Bands mit einer allgemein akzeptierten Lautstärke, die in Deutschland längst von aufgebrachten Frühschläfern und alarmierten Polizeistreifen unterbunden würden. Hier stellte sich, bei aller inszenatorischen Organisation, keine falsche Künstlichkeit ein; feierte die Stadt eine breitangelegte Party.

Der Nachtwanderung voraus ging die Eröffnung der Begleitausstellung im langgestreckten Centraal Museum. Nur dort kann man Krzysztof Wodiczkos Arbeiten mit Großprojektionen in einer geschickt aufgebauten Diadokumentation betrachten. Der polnische Künstler ergänzt mittels flutlichtstarker Spezialbildwerfer öffentliche Gebäude, Schiffsrümpfe oder weithin sichtbare Monumente. So erhält ein Denkmal Panzerketten, ein Held steht auf einer Holzkiste, ein Hörsaal hat Ohren, oder riesige Hände greifen nach der Skyline von Manhattan. Insgesamt sind jedoch die Innen-Arbeiten — der städtischen Umgebung beraubt und vor neutrale, geweißte Wände gestellt — deutlich schwächer. Eher unfreiwillig korrespondieren da Maurizio Nannunccis hochgezogene Neonschriftzüge mit dem elegant- bläulich illuminierten Plexiglasschild „Uitgang“ oberhalb der Türen zum Klosterhof.

Wiederum als Entdeckung entpuppt sich allerdings Allen Ruppersbergs Innen-Installation How to remember better a tomorrow (Sets and props): Wie rasch abgelegt stehen Umzugskartons, Absperrkordeln, ein Villenmodell mit Garten unter Glas, eine überdimensionale Anzeige als Zeitungsausschnitt und auf Pappe gezogene Kalenderblätter im Wege. „Land of Dreams“ steht oberhalb der Immobilienanzeige, mit Rotstift umkringelt; in den Kartons liegen gestapelte Fotos der Traumvilla.

Kaum hat man die Grenze zu den Niederlanden überquert, begibt man sich in eine (optisch) neue Welt: Die Häuser erinnern mit ihren großen Fensterfronten und einfachen Formen an Londoner Vororte oder Downtown Manhattan; die Reklameschriften sind sachlich, gut lesbar und ornamentlos. Selbst das großstädtische Leben hat noch etwas Dörflich-Belebtes, die Stadt ist erweiterter Wohnraum und nicht nur Einkaufszone. Somit ist Utrecht ein ideales Pflaster für die zumeist zarten Lichtwerke von Nachtregels/Nightlines*, wo Stadtbummel und Kunstschauen selbstverständlich in eins fallen. Wie würde entsprechende Initiative in Berlin oder Frankfurt ausfallen?

Nachtregels/Nightlines steht noch bis zum 15. Oktober zur Verfügung; die Begleitausstellung schließt bereits am 8. September. Hier erhält man auch den Begleitkatalog und einen speziellen Stadtplan.

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