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Keine Chance für die „schiitische Gefahr“

■ Kämpfe im Südirak gehen angeblich weiter/ Die Geschichte der irakischen Schiiten ist eine Geschichte der Unterdrückung

Teheran/Berlin (afp/taz) — Das iranische Fernsehen berichtete am Montag abend erneut über Kämpfe im Südirak. In iranischen Grenzorten sei „sehr lauter Explosionslärm“ zu hören gewesen, der auf einen Krieg der Armee gegen irakische Oppositionelle schließen lasse. Beinahe täglich berichtete Radio Teheran letzte Woche von schweren Angriffen irakischer Truppen auf angeblich zehntausende in den südirakischen Sümpfen eingekesselte Schiiten. Die irakische Führung beschuldigte im Gegenzug die „Agenten in Teheran“, gegen die „Festigung der nationalen Einheit im Irak“ zu arbeiten. Zum Beweis, daß die Anschuldigungen aus der Luft gegriffen seien, ließ das Bagdader Informationsministerium am Wochenende ausländische Journalisten im Hubschrauber über einem Teilstück der ausgedehnten Sumpflandschaft kreisen. Die Reporter konnten von oben weder Schlachtfelder noch Flüchtlingsmassen entdecken, wohl aber viele gut bewaffnete Militärposten. Ein mit schwerer Artillerie ausgerüsteter Posten diente nach Auskunft eines Begleiters vom irakischen Informationsministerium dem Schutz eines schiitischen Dorfes, aber den Journalisten fiel auf, daß die Geschützrohre eindeutig auf die Häuser gerichtet waren.

Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (HCR) kündigte am Wochenende an, sogenannte „blaue Routen“ im Südirak einrichten zu wollen, auf denen schiitische Flüchtlinge unter dem Schutz der UNO in ihre Dörfer zurückkehren können. Die Schutzrouten sollen für Rückkehrer aus Iran gelten und auch für die angeblich in den südirakischen Sümpfen eingekesselten schiitischen Iraker, deren genaue Situation dem HCR aber nicht bekannt sei.

Was zur Zeit tatsächlich im Südirak passiert, läßt sich nicht feststellen. Die Gegend ist auch für irakisches Militär schwer zugänglich. Nach dem iranisch-irakischen Krieg versteckten sich dort 45.000 bis 50.000 irakische Deserteure. Die verbotene Kommunistische Partei Iraks hatte in der Region einige Zeit ihr Hauptquartier. Die irakische Armee setzte in den Sümpfen während des iranisch-irakischen Kriegs gegen angreifende Iraner Giftgas ein.

Die irakische Führung hat in der Vergangenheit wiederholt bewiesen, daß sie nicht davor zurückschreckt, auch gegen die Schiiten mit gleicher brutaler Gewalt vorzugehen wie gegen die Kurden. Ihre Geschichte ist eine Geschichte der Unterdrückung. Die Schiiten im Irak gehören zu den ärmsten schiitischen Gemeinschaften im Nahen Osten, gleichzeitig sind sie aber Hüter der größten schiitischen Heiligtümer und Lehrstätten in Nadschaf, Kerbala, Hilla, Kazimiyah und Sammara. Zwischen 55 und 60 Prozent der Iraker sind Schiiten. Im Gegensatz zu den iranischen Schiiten sind sie fast alle Araber, eine Minderheit, die 2 Prozent der irakischen Gesamtbevölkerung ausmacht, sind schiitische Kurden. Das Wort Schia bedeutet Gefolgschaft. Schiiten sind die Gefolgsleute Alis, des Cousins und Freunds des Propheten Muhammed. 656 wurde Ali von den Gegnern der mächtigen Militäradelsfamilie der Omaiyaden zum Khalifen ausgerufen, 661 wurde er ermordet. Sein Gegenspieler Muawiya wurde sein Nachfolger und zum Begründer der sunnitischen Omaiyaden-Dynastie. Die Schiiten verehren neben Muhammed zwölf weitere Personen: Ali, seine beiden Söhne und deren Nachfolger. Alle bis auf den letzten wurden ermordet. Der zwölfte Nachfolger Muhammeds verschwand auf ungeklärte Weise im Alter von 4 Jahren. Nach schiitischem Glauben zog er sich auf Geheiß Allahs aus der unreinen Welt zurück. Erst wenn er, der „Mahdi al- Ghaib“ (der verborgene Mahdi) zurückkehrt, soll die Welt von Ungerechtigkeit und Unmoral erlöst werden. Ihr Glaube machte die Schiiten in den Augen der Sunniten zu Ketzern. Über Jahrhunderte galt es als Pflicht eines jeden sunnitischen Predigers, Ali und die Schia zu beschimpfen. In Bagdad wurden unter der Herrschaft der sunnitischen Abbassiden die Leichen tausender ermordeter Schiiten eingemauert. Beim Abriss alter Häuser in Bagdad wurden in den letzten Jahren ihre Skelette in den Grundmauern gefunden.

Der Sturz der prowestlichen irakischen Monarchie 1958 veränderte die politische Lage im Irak grundsätzlich. Besonders die kommunistische Partei Iraks zeichnete sich durch einen hohen Anteil von Schiiten und Kurden und anfangs auch Juden aus. Sie wandte sich mit ihrem antikolonialen Programm vor allem an die armen Bevölkerungsschichten und an dieMinderheiten. 1963 kam die panarabische Baath-Partei durch einen Militärputsch an die Macht, spaltete sich aber kurz darauf in einen rechten und einen linken Flügel. Der rechte Flügel wurde von sunnitischen Militärs dominiert. Infolge der Spaltung verlor die Partei wieder die Macht. Der rechte Flügel gelangte durch einen Militärputsch 1968 wieder an die Spitze des Staates. Schiiten spielten in der Führung praktisch keine Rolle. Im höchsten irakischen Gremium der Legislative und Exekutive, dem „Revolutionären Kommandorat“, war von 1968 bis 1977 kein einziger Schiit. Mitte der siebziger Jahre wies die irakische Führung etwa 300.000 schiitische Familien in den Iran aus. 1977 ließ die irakische Führung einen Prozessionszug von mehreren hundert Schiiten, der von Nadschaf nach Kerbala marschierte, von Hubschraubern und Panzern zusammenschießen.

Während des iranisch-irakischen Golfkriegs reformierte sich die schiitische irakische Opposition. Mitglieder der „Al-Dawa Al-Islamiya“ (Islamischer Ruf), der größten schiitischen Oppositionsgruppe , verübten zahlreiche Anschläge auf irakische Regierungseinrichtungen und Schlüsselpersonen der Baath-Partei. 1980 entging der damalige Informationsminister, Tariq Aziz, in der Bagdader Universität nur knapp einem Attentat. Die irakische Führung reagierte mit einer Welle von Verhaftungen und Razzien. Allein der Verdacht, mit der „Al-Dawa“ zu sympathisieren, reichte für ein Todesurteil.

Als im März dieses Jahres im Anschluß an die „Operation Desert Storm“ irakische Eliteeinheiten den Aufstand der Schiiten im Südirak niederschlugen, griffen die wenige Kilometer davon entfernt stehenden Alliierten nicht ein. Mitarbeiter der Hilfsorganisation medico international besuchten im Südiran Lager von aus dem Irak geflohenen Schiiten. Ein Flüchtling sagte ihnen: „Als wir in Voice of America hörten, daß unser Volksaufstand ,schiitisch‘ genannt wurde, wußten wir, daß wir von den Alliierten keine Hilfe erwarten konnten, gleichgültig welche Grausamkeiten vor ihren Augen vollstreckt würden. Die ,schiitische Gefahr‘ hat inzwischen das kommunistische Feindbild aus der Zeit des kalten Krieges perfekt ersetzt.“ Hashem Mohamed, T. Dreger

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