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Warme Bewußtseinskugel

Georges-Arthur Goldschmidts autobiographische Bücher  ■ Von A. Garbrecht

Das passiert ganz selten: Daß ich ein Buch unmittelbar nacheinander ein zweites Mal lese, weil ich beim ersten Durchgang nicht genug bekommen habe. Und daß ich dann beim zweiten tatsächlich satt belohnt werde.

Dabei ist der Stoff der Erzählung von Georges-Arthur Goldschmidt Die Absonderung durchaus nicht neu. Wer die beiden anderen auf deutsch vorliegenden Bücher kennt, Der Spiegeltag (übersetzt von Peter Handke) und Ein Garten in Deutschland (übersetzt von Eugen Helmlé), ist mit der Geschichte des Helden bereits vertraut, jenes Arthur aus dem Garten, jenes namenlosen Er aus dem Spiegeltag.

Goldschmidt, in Paris lebender Gymnasiallehrer, Essayist, Handke- Übersetzer und Autor, kehrt literarisch immer wieder in seine eigene Kindheit und Jugend zurück. Um mit der Absonderung auch erstmals wieder in seine Muttersprache — 50 Jahre nach seiner Vertreibung aus Deutschland.

„Zuhause, es war 1938 gewesen, hatte er nicht bleiben dürfen: er war schuldig, von ihm hatte man etwas gewußt, was er selber noch nicht wußte... Er gehörte weggeschafft, das hatte er immer schon gewußt.“ „Weggeschafft“ — als jüdisches Kind vorsorglich von seinen Eltern ins Ausland in Sicherheit gebracht. Als Zehnjähriger tritt das Kind die Reise von Reinbek bei Hamburg nach Florenz an; er wird seine Eltern nie wiedersehen. In Italien findet er für kurze Zeit Aufnahme bei Verwandten, bis er auch von dort vor seinen Verfolgern weiterfliehen muß. Ein Kinderheim in Frankreich, ein Internat in den savoyischen Bergen, nimmt den jüdischen Jungen auf, er ist für ein paar Jahre in Sicherheit. Bis auch dorthin die Nazis vordringen.

Hier endet die Absonderung — ihre Fortsetzung hat Goldschmidt bereits Jahre zuvor im Spiegeltag geschrieben: Als Geschichte des jungen Mannes, der in der Mansarde eines Pariser Waisenhauses die Bruchstücke seiner Jugend und seine verlorene Kindheit zusammenträumt. Der Kindheit in jenem Garten in Deutschland, den der Erwachsene, sehr viel später, nach dem Krieg, noch einmal besucht. Aber: „Es gibt Reisen, die man besser nicht unternimmt...“

In Erinnerungsschüben, ausgelöst durch Gerüche, Farben, bestimmte Panoramen von Paris, setzt der ungenannte Erzähler in der Absonderung das Gefühlslabyrinth dieses Jungen zusammen. Von seinen Eltern hört das Kind das Wort Jude zum ersten Mal; das Kind glaubt, sie redeten von der Bibel. Erst als der Pfarrer den Jungen bei diesem Wort immer so seltsam anschaut, empfindet er diffuse Angst, doch „Juden kannte er keine“. Aber er spürte: „Etwas Unheimliches gehörte dazu, eine Schuld, er fürchtete sich davor, als könnte man wissen, daß es seine eigene war.“

Die vorsorgliche Rettungsaktion der Eltern empfindet er daher als ein „Wegschaffen“, als Strafe. In einer Art intuitiver Gefühlslogik biegt er sich das Unbegreifliche zurecht; wo Strafe ist, muß auch Schuld sein. Er hat an sich selber „herumgefummelt“, man hatte ihn „dabei gesehen und es der Mutter erzählt“. — Eine Vorstellung, wahrlich dazu angetan, sich unter Schamgefühlen zu begraben. Diese Scham bestimmt das Selbstgefühl des Jungen, das Befremden über den eigenen Körper und seine Nacktheit, darüber, von anderen angeschaut zu werden: „Das Auge ist der Sitz des Lasters.“ Die Scham aber auch, andere anzuschauen, die sich nicht als Angeschaute wissen.

Im Garten in Deutschland beobachtet der Junge seinen Vater, während dieser versucht, sein Motorrad in Gang zu bringen. Auf dem Beifahrersattel sitzt schon der Nachbarsjunge, mit erwartungsvoll starrem Gesicht, den Blick nach vorne gerichtet, „als ob sie schon führen“. Als das Gefährt schließlich mit aufeinanderfolgenden Stößen ruckelnd in Gang gesetzt wird, verändert sich das Gesicht des Jungen auf dem Beifahrersitz nicht. „Und er stand da als Zuschauer und sah zu. Wäre er aus einer Form genommen worden, die Scham hätte seine Gestalt gehabt.“

Die Absonderung des Jungen, von seinen Eltern, von seiner Heimat, von „den anderen“ findet ihre Fortsetzung in dem französischen Kinderheim. Er wird zurückgesetzt, verhöhnt und gequält von seinen Mitschülern, exzessiv bestraft von der sadistischen Heimleiterin: Knien auf dem Lineal, Prügel mit der Rute, Stockhiebe auf die Fingerspitzen. Zu Anfang sind dem Jungen die Haßwellen, die ihn dabei überfluten, gerade recht, um darin seinen Heimwehschmerz zu ertrinken; er will empfindungslos werden. Doch die masochistischen Phantasien verselbständigen sich zunehmend, er denkt sich bereits im voraus lustvoll in die Auspeitschszene hinein, für die er selber die Ruten im Wald zusammensuchen muß. In der Opferrolle, als sichbar gequälter aufschreiender Körper, ist das Gefühl der eigenen Nichtigkeit aufgehoben. Im Geschlagenwerden spürt er sich zum ersten Mal. „So wurde die Strafe zu seiner Welt, eine Welt, in der er sich auskannte und zurechtfinden konnte.“

Masochistische Phantasien finden sich bei Goldschmidt immer wieder: Von der Vorstellung, sich als Däumling im Ohr eines Pferdes unsichtbar zu machen, über den Wunsch, zwischen den Schenkeln seiner Mitschüler nur noch eine „warme Bewußtseinskugel“ zu sein oder gefesselt und ausgepeitscht zu werden, bis hin zu der Vorstellung, als Diener oder Sklave den Wünschen anderer gefügig zu sein — Selbstauflösungs- und Selbstvernichtungsphantasien, die der Urscham, überhaupt zu existieren, ein Ende bereiten könnten.

Damit verknüpft ist, der uralte Kindergedanke: Ich bin ich und nicht zufällig jemand anders. In allen möglichen Wahrnehmungskonstellationen spielt Goldschmidt diesen Gedanken durch, für den Jungen in der Absonderung wird das Sich-Selbst- Wegdenken zur Manie. Er verschmilzt im anderen, um sich selber im Blick des Gegenüber Umrisse zu geben, aber auch um sich zu vernichten. Im Spiegeltag schreibt der Autor: „So wurde man für flüchtige Momente, für einen Ruck ohne Dauer, derjenige den man betrachtete. Und der Blick drang ein in den anderen und wendete sich dort, als sei der andere der Betrachtende.“

Diese auch mit Gegenständen halluzinierte Aufhebung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, dieses Verschwimmenwollen in allen anderen, wird aber andererseits radikal und konsequent durch die Erzählerperspektive aufgehoben: Jenseits des Wahrgenommenwerdens gibt es keine Realität. Jeder Blick nach außen, aus den Augen des namenlosen Helden, läßt die Dinge nur in dieser einen Perspektive erscheinen. In dieser radikalen Subjektivität formuliert sich das Selbstbewußtsein, das der Internatsschüler mühsam zu gewinnen sucht.

Auch die wunderschönen Landschaftsbilder, vor allem in der Absonderung, sind wie durch ein einziges Körperauge hindurch gesehen, das sich Details heranzoomt und in der Ferneinstellung wieder in die Umgebung einbettet. Und mit einem einzigen Lidschlag wieder zum Verschwinden bringt: „Auf der rechten Flanke des Kinderheims wuchs der Tannenwald wandartig empor, hinter dem die schnurgerade Landstraße auf einmal ohne Übergang verschwand. Manchmal schien ein Pferdekopf auf einmal aus dem Waldrand herauszuwachsen... Die Autos aber fuhren so schnell, daß man nicht sah, wie sie über die senkrechte Trennungslinie zwischen Landstraße und Tannen fuhren. Mit einem einzigen Blick konnte man das sehr Nahe und das sehr Entfernte auf gleicher Höhe sehen, und das gab ein Gefühl der eigenen Stärke.“

Den Phänomenen aus eigener Kraft einen Zusammenhalt, einen Rahmen zu geben — das gelingt der Goldschmidtschen Erzähl- und Romanfigur selten. Für sie zerfällt die Welt in eine Kette von Zufälligkeiten, es gibt für sie keine verbindlichen oder gar verläßlichen Erklärungsmuster. Etwas ereignet sich, aber es hätte sich genauso gut etwas anderes ereignen können. Daß der Erzähler darüber nicht in Melancholie, sondern in kindliches Staunen verfällt, in eine hinreißende Detailbesessenheit, macht den großen Reiz der Lektüre aus. Dafür ein ganz kleines Beispiel: „Er hatte auch von der Trikolore gehört und wußte, daß sie senkrecht gestreift war, was ihn störte: wenn geflaggt wurde, konnten die Farbstreifen nicht richtig herunterhängen.“

Die Absonderung endet mit der Flucht des Jungen aus dem Internat. Als die Situation zu bedrohlich für ihn wird, da überall im Dorf nach Juden gefahndet wird, schickt ihn die Heimleiterin fort, damit er sich in den Bergen verstecke. Auf dem Weg vom Kinderheim zum Dorf sieht er einen Offizier und zwei Soldaten mit gezogener Pistole auf sich zukommen. Mit starr aufeinander gerichteten Blicken nähern sich die vier langsam einander. Ein Zucken im Mundwinkel des Offiziers, der Junge streift die Uniform seiner Verfolger fast — sie gehen an ihm vorbei: Ein Zufall, ein unerklärlicher Zufall läßt ihn entkommen. Wieder die Absonderung — alle anderen Juden im Dorf wurden abgeholt.

Georges-Arthur Goldschmidt: Die Absonderung . Erzählung. Ammann-Verlag, Zürich, 1991.

Der Spiegeltag . Roman. Deutsch von Peter Handke. Suhrkamp- Verlag, 1982.

Ein Garten in Deutschland . Deutsch von Eugen Hemlé. Erzählung. Ammann-Verlag, 1988.

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