: "...und wieder die Scham, Deutsche zu sein-betr.: "Bangen vor dem ersten Juli", taz vom 15.6.91
betr.: „Bangen vor dem ersten Juli“, taz vom 15.6.91
Ich liebe den aus der Türkei stammenden Kurden M.S. Sein Asylantrag läuft in zweiter Instanz und wird mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit abgelehnt, wie alle anderen Asylverfahren auch. Er arbeitet, hat eine Wohnung, kommt für sich allein auf und zahlt monatliche Steuern, in deren gemeinschaftlichen Nutzen er nicht kommen wird.
Ab ersten Juli beginnt das Bangen, das Zittern. Jede Stunde, jeder Tag. Angst.
Er kann nicht mehr, will nicht mehr kämpfen um ein menschenwürdiges Leben. Wo sollte er auch hin? Nach Frankreich, nach Holland? Überall dasselbe: der letzte Dreck gegenüber den „wissenden“, sattfetten, überheblichen Westeuropäern. Also wird er abgeschoben
Abgeschoben in ein Land, in dem er sich wenn er nicht getötet wird, aussuchen kann, ob er sich den Rest erbärmlichen Lebens von türkischem Militär und Geheimdienst oder der PKK tyrannisieren lassen wird. Aber Tyrannei findet ja beim Nato- und Wirtschaftspartner Türkei gar nicht statt. [...]
Europa kommt seiner Verantwortung nicht nach und wird es auch nie tun, denn die hier Entscheidungen treffen, tun dies unkontrolliert nur in Verantwortung ihren eigenen Interessen gegenüber. Die Konsequenz: Angst, Gewalt und wieder die Scham, Deutsche zu sein. Susanne Spanier, München
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