: Potsdamer Straße-betr.: "Potsdamer Straße", taz vom 5.6.91
betr.: »Potsdamer Straße«, taz vom 5.6.91
Lieber Michael Sontheimer, ist Ihnen beim Rotbuch- Verlag nicht aufgefallen, daß er sich in einem Gebäude befindet, das Atelierfenster hat? 1884 wurde das Gartenhaus für das Viktoria-Lyzeum, eine Art Frauenvolkshochschule und den Verein der Künstlerinnen und Kunstfreunde errichtet. Hier lehrte Käte Kollwitz und lernte Paula Modersohn-Becker das Zeichnen. Im Viktoria-Lyzeum bereiteten sich zum Beispiel Gertrud Bäumer und Helene Stöcker auf die Oberlehrerinnenprüfung vor.
Die Straße ist voller Frauenorte und ich bedauere sehr, daß Sie nicht in den einschlägigen Kreisen (Heimatmuseum im Schöneberger Kunstamt) nachgefragt haben, was es alles gegeben hat an berühmten Adressen. Schade! Helgard Ulshoefer
Das war aber ein hübsch nostalgischer Artikel — bloß man an der Realität doch wohl etwas vorbei. Ich erinnere mich durchaus, daß mir vor zehn Jahren Frauen erzählten, von der Potsdamer Straße weggezogen zu sein, weil es ihnen Angst machte, wenn sie nachts öfter verwechselt wurden. Im übrigen glänzt die Potsdamer Straße noch immer mit solch dollen Errungenschaften wie „dem ersten Sex-Kaufhaus“ der Welt. An der Post stinkt es wie eh und je bestialisch nach Urin, so daß man zusieht, seine Briefmarken anderswo zu kaufen. [...]
Überhaupt scheint die Straßenreinigung selten vorbeizukommen, nicht selten verursacht der Dreck der Straße Brechreiz. Das einzige Luxus-Möbel-Geschäft ist eben eingegangen, ein Reformhaus hat sich noch nicht einmal zwei Jahre halten können. Kommt hinzu, daß die Potsdamer Straße seit dem Fall der Mauer endgültig zur Abgas-Schluß Nummer Eins geworden ist, kaum wagt man auf dem Rad noch zu atmen, so extrem stinkt es nach Benzin- und Dieselabgasen. Trifft man den alten Nachbarn auf der Straße, braucht man einen längeren Plausch kaum zu fürchten: man würde einander infolge des Autolärms doch kaum verstehen. Viele der Einkäufer/innen sehen so elend im Gesicht aus, als könnten sie sich außer Penny-Markt-Produkten kaum etwas leisten. Man sieht, daß ihnen frische Luft und Sonne seit Jahren vorenthalten wird. Auch die Straßenbäume kümmern vor sich hin, nur in der querverlaufenden Kurfürstenstraße sieht das Grün in seinen Kübeln noch armseliger aus, daß man ständig versucht ist, einen Preis für die kümmerlichsten Baumkübel Berlins anregen zu wollen,
Kurzum, daß die Gegend der Potsdamer Straße eine Schickimicki-Gegend würde, steht noch lange aus. Bislang dominiert die Armut, die gezwungen ist, Dreck und Gestank der durchfahrenden Autos Tag für Tag auszuhalten. Eisabeth Meyer-Renschhausen für
die BüIni Dennewitzplatz/Nelly-Sachs-Park
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